
Stella Kunzendorf
Praktisches Jahr
16.11.2020 – 07.03.2021
Kleine Einführung:
Nach einigem Suchen bin ich, vor einem Jahr etwa, auf die Praxis Bayerwald gestoßen, über die mir zufällig auch ein ehemaliger PJler, Peter, begeistert erzählt hatte. Gerade nach meiner Studienzeit in der groß angelegten und oft sehr anonymen Berliner Krankenhauswelt war es mir für mein Praktisches Jahr wichtig, in einem motivierenden Umfeld zu lernen, an dem Patienten nicht nur als Zahlen durchgeschleust, sondern als Menschen wahrgenommen und behandelt werden.
Ich denke, ich gehöre nicht zu denjenigen Medizinstudierenden, die bereits im ersten Semester (oder vielleicht schon viel früher) genau wussten, welche Fachrichtung sie anstreben würden, um diese dann mit vollem Elan auf der Zielgeraden zu verfolgen. Immer wieder habe ich mir bei meinem Studium die Frage gestellt, ob ich mich in diesen Krankenhausfabriken, wo hochspezialisierte Fachexperten sich zunehmend kleineren Ausschnitten des menschlichen Körpers annehmen und Patienten wie am Fließband durchschleusen, überhaupt vorstellen kann. Für mich ist die Nähe zum Menschen das eigentlich Spannende an der Medizin – die unschätzbare Möglichkeit, dank dieses Berufs die unterschiedlichsten Menschen durch verschiedene Lebenslagen begleiten und von ihnen lernen zu dürfen. So habe ich während meiner Studienzeit immer wieder Möglichkeiten ergriffen, Patienten über die rein biomedizinische Ebene hinaus, in ihrer gesamten psychologischen und sozialen Komplexität wahrnehmen und unterstützen zu lernen. Mein Wunsch ist es, später als Ärztin nicht nur medizinische Fälle zu bearbeiten, sondern auch Raum zu schaffen, mich für soziale Ursachen von Krankheit und einen verbesserten Zugang zur Versorgung einzusetzen. Mit der Zeit hat sich Allgemeinmedizin immer mehr zu einem Zukunftsweg entpuppt, bei dem ich vielleicht all das verbinden kann.
Nach meinen Jahren in Berlin nun eine komplett neue Erfahrung für mich: Hier im Bayerischen Wald ein innovatives Versorgungsmodell kennen zu lernen, das eine hochwertige und persönliche Gesundheitsversorgung in dieser ländlichen strukturschwachen Region ermöglicht. Durch Arbeit in einem größeren vielseitigen Team mit persönlicher Betreuung kann ich lernen in die Rolle als Ärztin hineinzuwachsen – ein spannender Ort, um in mein PJ zu starten!
Woche 1: 16.11. – 20.11.2020
Grün mit herbstbunten Sprenkeln ziehen die Hügel an mir vorbei, als ich mit dem Auto die kurvige Landstraße hochfahre, die sich abwechselnd durch dichten Wald und kleine schläfrige Ortschaften schlängelt. Einzelne Nebelschwaden haben sich mit dem heranschleichenden Abend an ein paar Hängen niedergelassen. Eine ungewohnte Ruhe strahlt diese Landschaft um mich herum aus, fast, als würde man den Trubel der restlichen Welt mit jedem zurückgelegten Meter weiter hinter sich lassen. "Kirchberg im Wald 2km" steht jetzt auf einem Schild und ich merke, wie die Neugier, begleitet von etwas Aufregung, in mir hochkriecht – was ist das für ein Ort, an dem ich meine nächsten 4 Monate verbringen werde?
Der Email-Kontakt zu Dr. Blank und seinen Assistenzärztinnen über die Ferne hinweg war bereits so herzlich, dass ich mich schon willkommen fühlte, bevor ich überhaupt angekommen bin. Noch scheint es mir surreal, dass ich jetzt hier im tiefsten Bayern mein PJ beginne. Seit letzter Woche erst bin ich aus Samos zurück, wo ich seit Juli eine NGO bei der Primärversorgung der Geflüchteten im Camp unterstützt habe. Die Arbeit dort, bei der uns – gerade zu Corona-Zeiten – so oft die Hände gebunden wurden, war emotional sehr aufwühlend, sodass ich gefühlt noch etwas Zeit brauche, bis ich mich hier wieder eingefunden habe. In meinen Gedanken schwebe ich nach wie vor zwischen den Welten. Entsprechend groß ist das Kribbeln irgendwo in meiner Magengegend, während ich mich auf zu diesem neuen Kapitel mache, den Kirchberg hoch, auf dessen Anhöhe die Studentenwohnungen direkt neben der Kirche liegen. Mit den anderen Studentinnen machen wir es uns in den beiden kleinen Wohnungen gemütlich, mein Blick immer wieder in das weite Tal schweifend, wo die Abendsonne, gerade noch hinter den Hügeln hervorspitzt. Jetzt bin ich also tatsächlich hier.
Am nächsten Morgen geht es mit Dr. Blank direkt nach Grafenau, einem kürzlich übernommenen Praxisstandort etwa 30km von Kirchberg entfernt. Nach dem hektischen Klinikalltag unter freiem Himmel auf Samos fällt mir vor allem die Ruhe und Aufmerksamkeit in den Gesprächen mit seinen Patienten auf, die Zeit, die er sich bewusst für jeden Einzelnen nimmt. Was für ein Privileg, denke ich mir immer wieder, den Patienten einen geschlossenen Schutzraum – mit Dach über dem Kopf und ohne lärmendes Gewusel herum – bieten zu können. Für mich komplett neu ist, dass er die Dokumentation des Gesprächs im Anschluss per Diktiergerät und wenn möglich im Blickkontakt mit seinen Patienten durchführt, sodass diese im Zweifel auch mit korrigieren können – Momente, in denen ich spüre, welch großer Wert hier auf Patiententeilhabe und Mitsprache an ihrer Gesundheitsfürsorge gelegt wird.
In den folgenden Tagen werde ich weitere Praxisstandorte in Kirchberg, Auerbach, Schoefweg und Rinchnach kennen lernen und dort einen ersten Einblick in die verschiedenen Arbeitsweisen der Ärztinnen und Ärzte bekommen. Obwohl sie an unterschiedlichen Standorten arbeiten, merkt man schnell, dass alle Teil eines Teams sind, das sich regelmäßig durch Zoom-Meetings mit Fallbesprechungen und Fortbildungen untereinander austauscht. Alle sind unheimlich bemüht, mich mit einzubeziehen und mir etwas mit auf den Weg zu geben. Während einer der Ärzte, ein wandelndes Lexikon, mir in jeder freien Minute Fragen von interessanten Patientenfällen (z.B. An welche Krankheit denkst du bei einem männlichen Patient mit alleiniger GPT-Erhöhung?) zuwirft, setzt sich ein anderer zwischendurch mit mir hin, um gemeinsam nochmal mögliche Kennzeichen einer Lungenembolie im EKG durchzugehen, oder schaut mir über die Schulter, während ich mich an einem Abdomen-Sono probiere. Auch die Praxishelferinnen, die mich ein paar Mal zu den verschiedenen Standorten im Auto mitnehmen und mir dann über die Gegend erzählen sind sehr engagiert. Manchmal habe ich das Glück, ihnen bei der Wundversorgung zuschauen zu können, und wünschte mir, ich hätte den einen oder anderen Trick bereits in Griechenland gewusst. Besonders schön ist auch Zusammenarbeit mit den beiden Assistenzärztinnen, die ihr Studentendasein vor nicht allzu langer Zeit hinter sich gelassen haben und daher aus eigener Erfahrung schöpfen können, welche Dinge gerade am Anfang des PJs wichtig und hilfreich sind. Bereits in den ersten Tagen kann ich eigene Patienten schon mal befragen und voruntersuchen, um sie dann dem behandelnden Arzt oder Ärztin vorzustellen und gemeinsam das weitere Vorgehen zu besprechen. Schnell werden wir dazu motiviert, eigenständig arbeiten und klinische Entscheidungen treffen zu lernen. Hier wird ein Lernklima geschaffen, in dem man für sich herausfinden und ausprobieren kann, was es heißt, ärztlich zu arbeiten. Das fühlt sich zu Beginn oft wie ein Sprung ins kalte Wasser an, aber schon am Ende der Woche habe ich das Gefühl, dass ich hier wirklich die Möglichkeit haben werde, Schritt für Schritt in diese neue Rolle zu schlüpfen.
Ein Fall dieser Woche bleibt mir besonders im Kopf, da er in drastischem Gegensatz zu meinen Erlebnissen auf Samos steht. Eine junge Mutter berichtet erst zögerlich, dann zunehmend hilflos, dass ihre Tochter am Vorabend versucht hätte, sich das Leben zu nehmen. Das Zimmer ist für einen Moment ganz still, bis das Gesagte in seiner Schwere zu uns durchsickert. In klaren, einfühlsamen Worten erklärt Dr. Blank ihr daraufhin, wie wichtig nun eine Vorstellung in der Kinder-Jugend-Psychiatrie zur weiteren Abklärung sei und organisiert sofort per Telefon einen Termin innerhalb der nächsten Stunde. "Dort würde ich in dieser Situation mit meiner Tochter auch hinfahren", meint er eindringlich. Unweigerlich muss ich in diesem Augenblick an einen unserer Patienten auf Samos denken, den wir nach einem Suizidversuch schlicht wieder wegschicken mussten, mit der Begründung, dass wir ihm leider nicht weiter helfen könnten, da es im Moment keine Möglichkeit gebe, an einen Psychologen zu überweisen. Eine Erinnerung, die immer noch in mir nagt und mir nun umso widersprüchlicher erscheint, wo ich hier wieder die Selbstverständlichkeit miterlebe, mit der weitere Unterstützung organisiert werden kann.
Mit den anderen Studentinnen tauschen wir uns beim Abendessen über das Erlebte aus und sind dankbar, hier oben in unserem kleinen Häuschen in netter Gesellschaft zu sein. Die erste Woche fliegt an mir vorüber wie ein frischer Windzug, fast ein bisschen zu schnell, um all die neuen Eindrücke zu verarbeiten. Es wird noch etwas dauern, bis ich hier richtig angekommen bin.
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Woche 2: 23.11. – 27.11.
Nun ist bereits die zweite Woche vergangen – und obwohl vieles nach wie vor neu ist, merke ich, wie ich mit jedem Tag etwas mehr hier eintauche. Immer wieder gibt es Momente, in denen ich realisiere, dass ich bereits etwas geerdeter vor meinen Patienten stehe, dass meine Stimme lernt, sich bestimmter ihren Weg durch die Maske vor meinem Gesicht zu bahnen, meine Ohren sich nicht mehr ganz so spitzen müssen, um genuschelte Beschwerden im Bayerwalddialekt zu verstehen, meine Hände schon selbstverständlicher Knie und Wirbelsäulen abtasten, ein Ganglion im Handgelenk oder muskulären Hartspann lateral der Lendenwirbelsäule erfühlen – mein anfänglich zurückhaltendes Beobachten weicht zunehmend Gelassenheit und Neugier.
Die Kälte breitet sich in diesen Tagen aus – und mit ihr das Virus, das auch vor unseren Praxen nicht halt macht. Im Laufe der Woche müssen sich zwei aus unserem Team in die häusliche Quarantäne begeben, was alle etwas anspannt und Fragezeichen kreisen lässt: Wie werden sich die nächsten Wochen hier wohl entwickeln? Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch wir vorübergehend Standorte schließen müssen? Mit vereinten Kräften werden wir versuchen, uns durch diese schwierigen Wochen zu helfen, arbeiten nun alle mit FFP2-Masken, lüften regelmäßig und bemühen uns den Patientenkontakt kürzer als sonst zu halten, aber dennoch menschliche Medizin zu machen. Mittags findet täglich eine separate Infektionssprechstunde statt, in welcher sich symptomatische Patienten unter strengen Schutzmaßnahmen vor den Praxistüren testen lassen können. Immer wieder fällt mir auf, wie geschmeidig hier die Abläufe geregelt sind, wie unsere Helferinnen trotz Personalmangel zwischen Patientenkoordination und eingestreuten Telefoninterviews jonglieren – und obendrauf dann noch eine Box erster Weihnachtsplätzchen für alle, auf fast magische Weise, in der Küche erscheint.
Anfang der Woche gleich begleite ich Svenja, eine unserer Assistenzärztinnen, auf ihrer Hausbesuchsrunde über die Dörfer, die in diesen Tagen in dichtem Nebel verschwinden. Vor allem für die älteren Patienten, die sich momentan aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus gar nicht mehr vor die Tür trauen, scheint diese Zeit besonders hart. Hinter Masken versteckt und mit 1.5 m Abstand erkundigen wir uns bei jeder Stippvisite kurz über den Stand der Dinge und versuchen etwas Zuversicht und Wärme zuzusprechen. Für unseren letzten Hausbesuch halten wir auf einem alten Hof, in dessen Vorgarten die Kälte in unzählig winzigen Eiskristallen von Blättern und Ästen baumelt. Allein ein dicker Kater hat sich unbeirrt auf der Fußmatte eingerollt. Eine knarzige Holztreppe führt in den ersten Stock, wo die Tür zu einer dunklen leeren Wohnung bereits einen Spalt offen steht. "Kommen Sie, kommen Sie" winkt uns die etwa 80 jährige Bewohnerin in die eingeheizte Küche. Die Alltagsschwere scheint ihren Rücken zu krümmen, als sie sich in dem schummrigen Licht vornüber gebeugt zum Küchentisch tastet. Seit Wochen schon habe sie nur noch wenig Appetit, fühle sich schlapp und müde, sodass sie gar nicht mehr in Schwung komme. Eine Waage habe sie nicht, aber am lockeren Bund ihrer Hosen hätte sie gemerkt, dass sie an Gewicht verloren habe. Die Übelkeit sei gerade wieder etwas besser geworden. Was sie momentan besonders belaste? "Meine Augen", klagt sie. Nach und nach verliere sie ihre Sehkraft, mittlerweile könne sie nicht mehr lesen, um sich die Zeit zu vertreiben. Dabei hatte ihr das früher solchen Spaß gemacht. Beim Augenarzt bereits abgeklärt besteht kaum Hoffnung auf Besserung. Wir versuchen uns einen Eindruck von ihrer Gemütslage zu verschaffen, schweifen zwischendurch ab zu Mutmaßungen über den Winter, der dieses Jahr wohl besonders spät und besonders kräftig kommen soll, aber verweilen auch bei ihr nur kurz, um die Kontaktzeit nicht zu sehr auszudehnen. "Das letzte Mal habe ich mir einfach die Zeit genommen, mich zu ihr zu setzen und ihr ein paar Zeitungsartikel vorzulesen. Das hat in dem Moment mehr geholfen als jedes Medikament", meint Svenja auf dem Rückweg. Aber nicht mal das geht gerade. Der Besuch lässt uns beide nachdenklich und etwas beklommen zurück. Würde hier eine Magen-Darm-Spiegelung überhaupt noch Sinn machen, um die Möglichkeit eines Tumors auszuschließen, der sich hinter ihren Symptomen verstecken könnte? Was können wir als Hausärzte für eine Patientin tun, deren Leitsymptom die Einsamkeit ist? Wie können wir, gerade zu diesen Zeiten, überhaupt unterstützend wirken?
Trotz und vielleicht gerade wegen der vielen momentanen Kontaktbeschränkungen, kümmert sich Dr. Blank mit vollem Herzblut darum, im Rahmen des Projekts "Landarzt-Manufaktur" ein überregionales Kommunikationsforum zwischen niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten aufzubauen. Donnerstag Nachmittag sitzen wir mit ein paar anderen entspannt am digitalen Kaffeetisch und besprechen ganz unkompliziert interessante Fälle, die uns diese Woche über den Weg gelaufen sind. Besonders schön an der Idee ist, dass hier uns jungen sowie älteren Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit gegeben werden soll, sich auszutauschen und voneinander zu lernen: Wir von ihrem Erfahrungsschatz und klinischen Feingefühl, das sich wohl nicht mal zwischen den Zeilen irgendeiner Leitlinie finden lässt – und sie von unserer jugendlichen Neugier und vielleicht auch von dem spontanen, unvoreingenommenen und noch nicht allzu routinierten Blick auf unsere Patienten. So entsteht eine angeregte Diskussion über verschiedene Erfahrungen und Vorgehensweisen rund um das ganz alltägliche Thema eines unkomplizierten Harnwegsinfekts, bei dessen Behandlung auch die DEGAM-Leitlinie Uneindeutigkeiten lässt. Unter anderem arbeiten wir zum Beispiel heraus, wie wichtig es ist, Patientinnen auf die korrekte Einnahme des Antibiotikums Fosfomycin hinzuweisen, die in keinem Beipackzettel klar beschrieben steht: abends vor dem Schlafengehen, damit das Medikament nachts in tiefere Blasenschichten einwirken und nicht sofort mit dem nächsten Toilettengang wieder herausgespült wird.
Dr. Blank, dessen Begeisterung über dieses Projekt ein breites Grinsen hinter seiner Maske erahnen lässt und selbst durch Bildschirme zu wandern scheint, erzählt mir danach, dass die meisten angehenden Ärztinnen und Ärzte zunächst sehr angetan über dieses Angebot seien, dann aber oft der Klinikalltag Raum ergreife und keine Luft mehr für diese Art von Austausch lasse. "Es hängt davon ab, wie man seine Prioritäten setzt, dann ist ganz viel möglich", meint er. Mal sehen, wo sich diese noch bei mir abzeichnen werden. Ich bin gespannt auf die nächste Woche!
Woche 3: 30.11. – 6.12.
Diese Woche verbringe ich komplett in Schöfweg und bin gespannt darauf, diesen Standort mit seinen Abläufen und Arbeitsweisen nun intensiver kennen lernen zu können. An der Seite von Frau Dr. Kleudgen und Sarah Moschko, den beiden Ärztinnen in der Praxis, wachse ich von Tag zu Tag mehr in meine neue Rolle und merke, wie ich zunehmend selbstverständlicher Bestandteil des Teams werde. Nun bereits ein paar Patienten mit "wir kennen uns ja schon" begrüßen zu können, freut mich – so langsam fühle ich mich hier wirklich angekommen. Morgens vor der Sprechstunde gehen wir gemeinsam die Laborergebnisse von den Blutentnahmen am Vortag durch: So überlegen wir zum Beispiel, was bei einem Patienten die Ursache von einer seit kurzem bestehenden Blutarmut mit vergrößertem Volumen der roten Blutkörperchen sein könnte – vielleicht die verminderte Absorption von Vitamin B12 unter seiner Metformintherapie? Sollte hier eventuell bald eine Vitamin B12-Substitution erfolgen, und wenn ja, in welcher Form, wenn das Vitamin bei ihm scheinbar nicht mehr ausreichend über den Darm aufgenommen werden kann? Oder woher der plötzliche Harnsäureanstieg eines anderen Patienten kommen könnte, der vor ein paar Tagen eine Pleurapunktion erhielt? Für mich ist es spannend den beiden Ärztinnen beim lauten Denken zuhören und mit überlegen zu können. Danach teilen wir uns auf die Patienten auf, wobei ich mir zunehmend mehr Eigenständigkeit mit meinen Patienten zutraue – stets den beruhigenden Gedanken im Hinterkopf, dass eine von den beiden Ärztinnen sich im Anschluss nochmal dazugesellen und ebenfalls ein Bild machen wird, was mir sehr viel Sicherheit gibt. Nach und nach selbstständiger arbeiten zu lernen und gleichzeitig bei jeglicher Unsicherheit Rückhalt zu erfahren ist für mich eine unbeschreiblich wertvolle Erfahrung, wie ich sie in dieser Tiefe tatsächlich zum ersten Mal mache. Ich spüre, was es heißt, zu lernen für andere Menschen Verantwortung zu übernehmen – "Genieß diese Rolle, die du jetzt im PJ hast", meint Sarah mal schmunzelnd in einer unserer Mittagspausen zu mir "Dass du wegen deiner Patienten schlaflose Nächte verbringst, kommt dann noch früh genug".
Ich habe mir diese Woche das Lernziel "Gefäße" vorgeknöpft und möchte mir dabei unter anderem mehr Klarheit rund um das ganze Thema Blutgerinnungshemmer schaffen. Nachdem ich die DEGAM-Leitlinie zum Bridging (d.h. Überbrückung einer Marcumar-Pause mit Heparinspritzen) gelesen habe, gehe ich während der Woche mit Sarah die Marcumar-Pässe mehrerer Patienten durch, bei denen sich die Frage stellt, ob es bei ihnen im Rahmen eines operativen Eingriffs nötig sein wird, zeitweilig Heparin zu spritzen oder nicht. Je nach Risikoprofil von Operation und Patient gilt es, im jeweiligen Fall das Risiko einer Blutung gegenüber dem Risiko einer Thrombusbildung abzuwägen, wobei sich in einigen Szenarien so manche Fragezeichen in unseren Köpfen verknoten: Zunächst müssen wir das Risiko einer Blutung während der geplanten OP einschätzen. Ist dies höher (z.B. laut Leitlinie ab der Extraktion mehrerer Zähne), muss die Marcumar-Therapie unterbrochen, der Patient gemäß seines Risikoprofils einer von drei Risikogruppen zugeordnet, und dann dementsprechend während der Marcumar-Pause ohne oder mit Heparin versorgt werden. Dabei stellt sich immer wieder die Überlegung: Was wiegt schwerer – das Risiko während der Pausierung der Marcumar-Therapie eine Thromboembolie zu erleiden oder das Risiko, die Blutgerinnungssituation des Patienten durch Heparinspritzen zusätzlich durcheinander zu bringen? Und wenn schon spritzen, dann in welcher Dosierung? In manchen Fällen sehr komplex und gar nicht einfach, individuelle Patienten in die von der Leitlinie vorgegebenen Schubladen zu stecken. Trotz der Handlungsempfehlung scheint hier viel Fingerspitzengefühl gefragt zu sein, und in Rücksprache mit Frau Dr. Kleudgen wird mir klar, dass diese Entscheidungen um einiges leichter fallen, wenn man dank Erfahrung und langjährigem Begleiten das Risikoprofil seiner Patienten auch ein Stück weit intuitiv einschätzen kann.
Passend zum Schwerpunkt Gefäße kann ich diese Woche unserer KHK-Spezialistin Waltraud bei der KHK-Sprechstunde über die Schulter schauen, welche für chronische Patienten mit Koronarer Herzerkrankung im Rahmen des Disease Management Programms (DMP) vierteljährlich durchgeführt wird. Waltraud, eine unserer Helferinnen, deren herzlich energetische Art sich in ihren Locken wiederspiegelt, die sich lebhaft um ihren Kopf kringeln, hat sich auf die Betreuung dieser Patienten spezialisiert: „Der Fokus dieser Sprechstunden liegt allein auf unseren Herzpatienten, damit wir diejenigen mit KHK als Grunderkrankung kontinuierlich unterstützend begleiten können. Wenn diese Patienten ansonsten nur mit anderweitigen Beschwerden wie Halsschmerzen in die Sprechstunde kommen, kann es schnell passieren, dass ihre KHK im alltäglichen Praxisstress untergeht und nicht explizit nochmal ein Auge darauf geworfen wird“, erklärt sie mir, als wir uns den nächsten Patienten hereinholen. Vor uns sitzt nun ein älterer Herr, das weiße Haar bis auf eine kleine abstehende Strähne sorgfältig über den kahlen Kopf gekämmt. Einen extra für diese Sprechstunde angefertigten Risikobogen durchgehend, erkundigt sich Waltraud nach dem körperlichen und seelischen Befinden des Patienten. Kleine Schneeflocken baumeln an ihren Ohren, als sie sich vorlehnt und ihn nach Herzbeschwerden fragt, nach seinen zu Hause gemessenen Blutdruckwerten, nach Stressfaktoren im Alltag, nach Möglichkeiten zum Ausgleich und körperlicher Bewegung. Bis auf eine beginnende Schwerhörigkeit, wegen der wir unsere Fragen teils mehrmals lauthals zu ihm hinüberrufen müssen, scheint der Patient noch sehr fidel. Er versuche, sich so gut es ginge, auf den Beinen zu halten, sei viel im Wald unterwegs, wo der Borkenkäfer dieses Jahr sein Unwesen treibe. Auch Honig habe er viel abgefüllt, der Waldhonig lief zwar mäßig, aber Blütenhonig habe es reichlich gegeben. Als er stolz berichtet, wie er in jeder freien Minute bei seinen Söhnen in der Schreinerei mithelfe, was ihn körperlich nicht sonderlich anstrenge, tanzen seine Augen fast jungenhaft unter den buschigen Augenbrauen. Mein Blick wandert auf die in seinem Schoß ruhenden großen, kräftigen Hände, auf denen sich tiefe Spuren langjährig körperlicher Arbeit abzeichnen. Zusammen gehen wir seinen Medikamentenplan durch und gleichen ihn mit dem in unserem System ab, während Waltraud bemerkt: „Das ist mir vor allem bei älteren Patienten mit einem ganzen Berg an Medikamenten besonders wichtig, um mir ein Bild davon zu machen, ob sie ihre Medikamente nach Plan einnehmen und überhaupt noch in der Lage sind, sich alle selbst herzurichten.“ Im Rahmen eines kurzen geriatrischen Assessments verschaffen wir uns einen Eindruck von seiner Muskelkraft, der Sicherheit seines Gangbilds und seinem Zurechtkommen im Alltag. „Also stimmt es, wenn ich sage, Sie sind momentan zufrieden mit ihrem Leben, so wie es ist?“, schlussfolgert Waltraud. „Zu 99%“, wirft er uns mit einem Grinsen zurück und verabschiedet sich schelmisch „Wenn alles so weiterläuft, schaffe ich die 100“.
So ist die Woche schon fast vorbei, als der letzte Tag doch noch einige Überraschungen für uns übrig hat. Gerade habe ich zusammen Frau Dr. Kleudgen eine Patientin mit plötzlich attackenartigem Schwindel behandelt (dessen Übeltäter wir mithilfe von Lagerungsmanövern enttarnen konnten) und einen weiteren mit, seit Covid-Infektion auftretenden Pulsunregelmäßigkeiten mit einem Langzeit-EKG ausgestattet, als wir einen Notfall-Patienten wegen Gangstörungen ins Krankenhaus einweisen müssen und dann kurz vor Sprechstundenschluss noch eine Patientin mit Blutdruckentgleisung auf unserem Praxisboden zusammensackt. Gemeinsam mit ihrer Tochter beruhigen wir sie, verdeutlichen, wie wichtig nun nach ihrem stressigen Krankenhausaufenthalt das Wiedereinpendeln auf ihren regulären Medikamentenplan sei, und können sie zu ihrer großen Erleichterung wieder nach Hause entlassen. „Danke für deine Unterstützung heute“, meint Frau Dr. Kleudgen mit ihrem tiefen wachen Blick, als wir uns ins Wochenende verabschieden. Da merke ich, dass ich mittlerweile schon so hier eingearbeitet bin, dass ich auch eine Stütze sein kann – und mir wird ein bisschen warm ums Herz. Mit Bea, unserer Spezialistin für Wunden jeglicher Größe, Tiefe, Form und sonstige hautinfektiöse Widerspenstigkeiten fahre ich zum Abschluss noch eine Runde Hausbesuche über die seit gestern mit Schnee überzuckerten Dörfer. Auf unserer letzten Station verbinden wir den großen Zeh einer Patientin, der im Zuge eines eingewachsenen Nagels und folglich verschleppter Infektion fast täglicher Fürsorge und Beas fachkundigen Blicks bedarf. Als ich ihr dabei zuschaue, wie ihre flinken Hände den Zeh in watteweiches Weiß verpacken, kommt mir wieder eine älteren Patientin in den Sinn, welche dieser Tage während eines Abdomen-Sonos plötzlich vor sich hin philosophierte: „Das Leben hängt am großen Zeh.“ – eine angeblich alte Redewendung, über die ich hin und wieder gegrübelt habe. Zwar ist mir ihre Bedeutung immer noch ein Rätsel, aber das Leben scheint mir in diesem Moment, wo man sich so liebevoll um diesen großen Zeh kümmert, doch gleich einen Funken wärmer.
(Auch mein großer Zeh ist am Tag darauf übrigens sehr vergnügt, als er mich die Himmelstreppe auf den Lusen hochträgt, von wo aus unser Blick – vorbei an den vom Borkenkäfer angenagten Tannen –weit übers Tal segelt, und wir zum Ausgleich im Winterwind die Seele baumeln lassen).
Woche 4: 7.12. – 13.12.
„Was ist die wichtigste Eigenschaft eines Arztes oder einer Ärztin?“, fragt mich Dr. Machac aus heiterem Himmel am Montagmorgen dieser Woche, die ich mit ihm in der Praxis Kirchberg verbringe. Ich überlege… Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis? Zuhören können? Klare Kommunikation? Gelassenheit? Teamfähigkeit? Wissensdurst? „Eine dicke Haut“, erwidert er. „Wenn du es schaffst, ruhig zu bleiben, gehört dir die Zukunft. Lass es dir nicht subkutan gehen.“ Bevor ich darauf komme, was genau er damit sagen will, geht es schon mit der Sprechstunde los. An diesem Morgen erwartet uns eine Flut an Patienten – ein fliegender Wechsel von Krankheitsbildern und verschiedenen Charakteren, Altersklassen und Befindlichkeiten. Es scheint mir eine Kunst, sich mit jeder Zimmertür, die wir öffnen, wieder auf einen neuen Menschen mit neuen Angelegenheiten einzustellen, zügig zu arbeiten und der Person vor uns trotzdem das Gefühl zu geben, dass wir uns Zeit nehmen.
Obwohl das Tempo zackig ist, lässt Dr. Machac keine Gelegenheit aus, in freien Momenten Details aus seinem unfassbaren Wissensschatz – in manchmal nicht ganz leicht verdaubaren Portionen – mit mir zu teilen. Immer wieder wirft er mir freudig Fragen über die Schulter zu Pathophysiologien und Therapieschemata, zu Nebenwirkungen oder sonstigen pharmakologischen Eigenheiten. So erfahre ich alles Mögliche zu verschiedenen Konstellationen von Leberwerterhöhungen, zu Hämoblastose-Parametern, zu Fragezeichen rund um die Chronotherapie oder PPIs, zum Dipping und Non-Dipping. Als Spezialist für Innere Medizin in unserem Team, zeigt er mir über die Woche eine ganze Reihe Diagnostikmöglichkeiten in unserer Praxis: Die Auswertung von Langzeit-Blutdruck- und Langzeit-EKG-Messungen, die Durchführung einer Ergometrie, einige Herzechos, sowie eine Fülle an Sonographien, samt einer Divertikulitis wie aus dem Lehrbuch, mehreren Schilddrüsenknoten, einer Raumforderung in der Leber, und – für mich bis dato eher einem Umherirren im Dickicht ähnelnd – auch mehreren schwierig darzustellenden Pankreasköpfen, zu denen er mir Manöver zeigt, um diese gezielter aufspüren zu können. An manchem Abend habe ich das Gefühl, dass sämtliche Regionen zur Neuaufnahme in meinem Gehirn ausgeschöpft wurden und kein Platz mehr bleibt, mir noch irgendetwas durchzulesen – aber mein Wissen scheint in diesen Tagen exponentiell zu steigen.
Nicht nur fachlich ist diese Woche reich an neuen Stimuli, wir haben zur Abwechslung auch noch eine Fortbildung zur ärztlichen Haltung mit dem Thema: „Wie überbringe ich schlechte Nachrichten?“. Von der Diskussion möchte ich mir für die Zukunft vor allem mitnehmen, meine Patienten in solch schwierigen Aufklärungsgesprächen dort abzuholen, wo sie selbst stehen und durch gezieltes Nachfragen zu erspüren, mit welchen Vorstellungen und Befürchtungen sie zu mir kommen – mit Fragen wie zum Beispiel: Was haben Sie sich bereits für Gedanken gemacht, worum es heute geht? Was glauben Sie, was es sein könnte? Was haben Sie denn hier schon für Erfahrungen gemacht? Wir besprechen, wie wichtig es ist, sich bereits im Vorhinein die Erlaubnis der Patienten einzuholen und im Zweifel auch ihr Recht auf Nichtwissen zu akzeptieren: Wünschen Sie überhaupt eine weiterführende Diagnostik? Wie viel möchten Sie über Ihre Diagnose wissen? In unserer Diskussion erzählt eine Palliativmedizinerin, dass sich aus ihrer Erfahrung trotz schwerer Diagnose meist irgendwo ein Funken Hoffnung mit auf den Weg geben lässt, und dass es essentiell ist, dafür eine Stütze zu bauen: Wie kann ich Sie nun weiter begleiten? Besonders einer ihrer Sätze bleibt in meiner Erinnerung haften: „Die Strecke vom Gehirn zum Herz ist eine halbe Weltreise.“ Nur weil wir Ärztinnen und Ärzte glauben, aufgeklärt zu haben, heißt das noch lange nicht, dass es auch bei unseren Patienten angekommen ist. Aber in welchen Situationen lassen sich diese Kommunikationsstützen anwenden? Gibt es im klinischen Alltag nicht oft auch Momente, in denen so zügig entschieden und gehandelt werden muss, dass es schwer wird, solche Überlegungen mit einzubeziehen?
Einen derartigen Moment erlebe ich dann noch am Freitag Abend, kurz vor Praxisschluss. Eine Patientin stellt sich mit seit Stunden anhaltendem Schwindel vor. Als wir ein EKG von ihr schreiben, wird ihr plötzlich akut komisch, eine Körperhälfte fühle sich kribbelnd an, ihr linkes Auge beginnt nach innen zu schielen. Alarmiert sehen wir in ihrer Akte nach: Sie hatte bereits vor ein paar Jahren einen Schlaganfall und wir müssen von einem Rezidiv ausgehen. Dann geht alles ganz schnell, wir benachrichtigen ihren Ehemann und organisieren schnellstmöglich eine Krankenhauseinweisung, während ihr Körper schlaff und kraftlos von der Liege hängt. Leise Tränen quellen aus ihren geschlossenen Lidern hervor, bahnen sich unauffällig einen Weg die Wange hinunter. Als ich den Kirchberg im Abendschwarz hochlaufe, und auch später, als ich es mir schon längst in unserer Wohnung gemütlich gemacht habe, muss ich immer wieder an die Patientin denken, an diesen hilflos
schielenden Blick, mit dem sie uns plötzlich ansah. Wie es ihr jetzt wohl geht? Ob mit der Einweisung in dieser schwierigen Zeit, in der manche Krankenhäuser schon gar keine Patienten mehr aufnehmen können, alles reibungslos geklappt hat? Wie haben wir ihr in dieser Notfallsituation die Nachricht unseres Verdachts auf einen Schlaganfall überhaupt überbracht? Alles verlief so rasch, dass ich mich konkret gar nicht mehr daran erinnern kann. Die Diagnose fiel auf einmal auf uns alle herab – aber hätten wir in diesem Moment überhaupt irgendetwas anders machen können? Stiller Nebel legt sich um unser Haus, ich schlafe unruhig in dieser Nacht. Eine bisschen dickere Haut brauche ich wohl noch – aber vielleicht auch nicht zu dick.
Woche 5: 14.12. – 20.12.
Der Höhepunkt dieser Woche kommt für mich gleich am Montag: In einer einstündigen Videokonferenz mit Prof Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission, können wir die vielen Unklarheiten rund um das Thema COVID-19-Impfung diskutieren. Bereits seit Tagen höre ich von Patienten immer wieder die Frage: „Sagen Sie mal, was halten Sie eigentlich von der Impfung?“ Während viele die Gefahr einer Infektion fürchten und sich schon jetzt sicher für die Impfung entschieden haben, schwebt bei anderen eine Wolke aus Fragezeichen im Raum. Wie können wir unsere Patienten diesbezüglich beraten und was an verlässlichen Infos mit auf den Weg geben? Auch Prof Ludwig muss zum jetzigen Zeitpunkt der Forschung mehrere Fragen offen lassen – ein Punkt ist mir nach seinem Vortrag jedoch klar: Wir haben im Moment keine handfesten Argumente, Unschlüssige zu der Impfung zu ermutigen bzw. fest Entschlossenen von der Impfung abzuraten. Zwar wurden trotz des enormen Zeitdrucks alle gängigen Voraussetzungen für eine Impfstoffzulassung eingehalten, jedoch ist die Datenlage zur Wirksamkeit des Impfstoffs im Moment noch dünn und beruht auf wenigen Studien, die – wie wir erfahren – zum Teil ein lückenhaft durchdachtes Konzept aufweisen. So bleibt der Primäre Endpunkt (d.h. das vorrangige Untersuchungsziel) der Studie zur Wirksamkeit des BioNtech-Impfstoffs schwammig – formuliert als Frage: Bei wie vielen Geimpften (im vgl. zu Nicht-Geimpften) treten Symptome auf, die mit einer COVID-19-Infektion vereinbar sind? Um dies zu untersuchen, wurde bei jenen, die sich mit Symptomen meldeten, das Vorhandensein einer COVID-19-Infektion durch Testung geprüft. Dabei
bleiben vor allem 3 Punkte offen: Der erste Schwachpunkt ist, dass somit eine unklare Dunkelziffer Geimpfter existiert, die womöglich trotz Impfung eine COVID-19-Infektion entwickelten, sich aber nicht testen ließen, da sie a) einen asymptomatischen Verlauf hatten, b) evtl. auftretende Symptome als zu erwartende Nebenwirkungen deuteten. Unter Beachtung dieser nicht-registrierten Fälle ist letztlich unklar, ob sich Geimpfte tatsächlich seltener infizieren als Nicht-Geimpfte. Zweitens wurde nicht herausgearbeitet, inwieweit vulnerable Gruppen (z.B. Probanden mit Immundefiziten) in der Studienpopulation adäquat repräsentiert sind, weshalb für diese eigentlich noch keine klaren Aussagen über Nutzen und Risiken der Impfung möglich sind. Drittens kann noch nicht gesagt werden, ob und wie viele schwere Verläufe tatsächlich durch Impfung verhindert werden konnten, da bis jetzt keine Verlaufskontrolle stattfand. Um hier mehr Klarheit zu erlangen ist eine Beobachtung der Studienteilnehmer in den nächsten 1-2 Jahren wesentlich. Gerade weil wir noch nicht genug über die Wirksamkeit des Impfstoffs wissen, ist es essenziell, die Hygienemaßnahmen vorerst trotzdem weiter einzuhalten. Sicher ist, dass wir nur dann überhaupt eine Chance auf die erhoffte Herdenimmunität, und damit den Schutz der Vulnerablen unter uns, erreichen können, wenn wir Vertrauen in die Impfung aufbauen und die Impfbereitschaft der Bevölkerung deutlich über 50% steigt. Umso entscheidender ist eine ausführliche Aufklärung unserer Patienten – d.h. im Sinne des Shared Decision Making ehrlich zu beraten und offen zu kommunizieren, was wir wissen und was nicht, Empfehlungen zur Impfung verständlich zu vermitteln und gut zu dokumentieren. Wir halten fest: Wir haben eine Impfung, die potenziell schützt und eventuell bei einem geringen Anteil – wie jede Impfung – auch längerfristige Schäden auslösen kann vs. eine Erkrankung, die ein vielfach größerer Anteil von uns nicht ohne Folgeschäden durchstehen oder gar daran versterben würde. Wenn ein Patient gut informiert ist und aus Besorgnis vor einer COVID-Infektion gerne geimpft werden möchte, dann ist es überaus sinnvoll ihn zu impfen. Wenn ein Patient sich wegen der möglichen Impfrisiken nicht sicher ist, dann ist es wichtig, hier klar über Nutzen und Risiken aufzuklären und in dieser Situation eventuell eher zum Abwarten zu raten bis die Datenlage eindeutiger wird. Ein unheimlich wichtiger und anregender Vortrag, der uns umfassend informiert und gut darauf vorbereitet, unsere Patienten in den nächsten Wochen und Monaten fundiert und ehrlich beraten zu können. Ende der Woche sitze ich im Zug nach Hause und überlege, was ich meiner Familie wohl über die Weihnachtstage mit auf den Weg geben kann – meiner 93-jährigen unternehmungslustigen, geselligen Großmutter, die sich danach sehnt, nach all den Monaten in Isolation endlich wieder unter Leute gehen zu können, meinem Onkel mit einer schweren
krankheitsbedingten Immunschwäche, meiner Tante, die als Lehrerin einem permanent hohen Infektionsrisiko ausgesetzt ist, meiner Schwester, die bald wieder nach England zurückkehren wird, wo das Virus sich nun anscheinend noch infektiöser austobt – wir alle werden mit diesem Jahreswechsel in uns gehen und uns wohl ganz pragmatisch für das kleinere Übel entscheiden müssen. Was die aktuelle Datenlage betrifft, so bleibt es momentan eine individuelle Abwägung, welches Risiko wir eher bereit sind einzugehen:
a) Eine Impfung mit kurzfristigen Nebenwirkungen (evtl. Schmerzen an der Einstichstelle, leichtes Fieber ähnlich wie bei der Pneumokokken-Impfung), die wahrscheinlich Schutz gibt. Eventuelle Langzeitfolgen sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, jedoch um ein Vielfaches unwahrscheinlicher als die Komplikationen bei schwerem Krankheitsverlauf.
b) Eine COVID-Infektion mit dem Risiko eines schweren, unter Umständen sogar tödlichen Verlaufs und möglicher Langzeitschäden.
Eine nicht ganz leichte Entscheidung , für die es im Moment vielleicht auch ratsam ist, auf unser eigenes Bauchgefühl zu hören.
Woche 6: 04.01. – 10.01.
Kirchberg im neuen Jahr scheint im Winterschlaf, zugedeckt von einer dicken Schneeschicht, als ich am ersten Januarwochenende zurückkomme. Ich freue mich wieder hier zu sein, nachdem ich mir ein paar Tage Auszeit genommen hatte, um das letzte Jahr etwas zu verdauen. Schnell werde ich wieder in die Realität geholt: gleich am ersten Morgen stellt sich ein junges Paar vor, beide sportlich, ohne Vorerkrankungen, nicht viel älter als ich, mit Folgeerscheinungen ihrer COVID-Infektion – abendliche Erschöpfungswellen, so plötzlich anflutend, dass nichts übrig bleibt als sich hinzulegen, bis vor kurzem noch Wortfindungsstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Kurzatmigkeit beim Spazierengehen, bereits nach kurzen Strecken das Bedürfnis Pausen einzulegen, wiederkehrendes Einschlafen einer Körperhälfte mit Taubheitsgefühlen. Auch ich könnte das jetzt sein, denke ich mir. Mich erschreckt immer wieder, dass ich in letzter Zeit doch von einigen jungen Patienten gehört habe, die nach einer COVID-Infektion vielgestaltige, teilweise kryptische Symptome mit sich schleppen und sich noch nicht wieder ganz erholt haben.
Die COVID-Thematik zieht sich wie ein roter Faden durch die Woche: auch wir in unseren Praxen unternehmen in diesen Tagen alles nur mögliche, um das Virus weiter einzudämmen – organisieren spezielle Sprechstundenformate für die Abstriche, fahren Hausbesuche in Schutzkleidung, um nach Erkrankten zu sehen, führen viele Telefongespräche mit COVID-Patienten, um Unsicherheiten zu klären, nehmen uns Zeit, über die anstehende Impfung aufzuklären, und treffen dabei nicht selten auf Patienten, die nach ihrer Infektion noch nicht wieder die Alten zu sein scheinen. Deshalb beginnen wir nun, eine Kartei für unsere Post-COVID Patienten mit anhaltenden Beschwerden zu erstellen, um diese im Rahmen eines Qualitätszirkels besser nachverfolgen und betreuen zu können.
Inmitten all dessen hinterlässt das Virus seine Spuren in Form einer besonders erschütternden Nachricht – sie bringt sehr nah, wie die Pandemie vor allem die Schwächsten und Schutzbedürftigen unter uns trifft, auch hier in Deutschland: Dr. Blank erzählt uns sichtlich mitgenommen, wie er vormittags in einer Geflüchtetenunterkunft Hausbesuche gemacht habe. Dort ist in der vorangegangenen Woche ein 32-jähriger Mann plötzlich und unerwartet an den Folgen einer COVID-bedingten Pneumonie gestorben – er meinte, das wird schon wieder, aber dann ging es wohl ganz schnell. Er hinterlässt eine Frau und drei kleine Kinder. Ich will mir gar nicht vorstellen, was seine Familie auf ihrer Flucht nach Deutschland bereits alles durchgemacht hat. Und nun auch noch das. Es ist fast unerträglich sich vor Augen zu führen, wie viel Elend diese Menschen ertragen müssen. Natürlich sind alle Bewohner der Unterkunft jetzt außerordentlich beunruhigt und wegen Corona-Quarantäne dürfen sie auch nicht aus dem Haus. Das örtliche Gesundheitsamt kümmert sich sehr und hat unsere Praxis gebeten, hier regelmäßig die Patienten, die erkrankt sind, zu besuchen. Und auch nach den anderen Covid-Infizierten zu schauen.
Diese bedrückende Nachricht verfolgt mich den ganzen Tag. Und gleichzeitig bin ich fassungslos: Wie kann es sein, dass Menschen, die diese so offensichtlich auch tödlich endende Erkrankung verharmlosen, nach wie vor so laut ihre Stimme erheben, während zur gleichen Zeit andere, traurigerweise oft einsam, dieser Krankheit erliegen? Wie können manche behaupten, es wäre alles wie jedes Jahr zur Grippezeit, während Menschen in Gesundheitsberufen in diesen Tagen bis an ihre Grenzen und darüber hinaus gehen, um den Erkrankten Beistand zu leisten? Es ist eine schwierige, verwirrende Zeit für alle, aber gleichzeitig wird mir immer wieder klar, wie enorm dankbar wir uns schätzen können, in diesen Momenten selbstverständlich Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben. Dass wir einen Hausarzt haben, der uns bei Fragen und Problemen zur Seite steht. Dass wir im Notfall Zugang zu einem Intensivbett haben. Dass wir die Möglichkeit einer Impfung haben werden, die hoffentlich bald zur Eindämmung und zur Rückkehr zu einem normaleren Alltag führen wird. Dass das Virus für viele von uns (bis jetzt!) unsichtbar geblieben ist, ungreifbar. Dass wir zu den Glücklichen gehören, deren Familienmitglieder (bis jetzt!) oh-ne große Schäden durchgekommen sind. Aber all das kann sich unter Umständen schnell ändern. Wer weiß, was die nächste Zeit noch bringen wird. Ich wünsche uns allen für die kommenden Wochen mehr Geduld, Vertrauen, einen klaren Kopf – und vor allem Zuversicht.
Woche 7: 11.01. – 15.01.
Ich bin die zweite Woche am Stück bei Dr. Machac in Kirchberg, was mir großen Spaß macht, weil ich dadurch Patienten aus der vorherigen Woche mit weiterverfolgen kann und seine herausfordernde, aber gleichzeitig humorvolle, engagierte Art sehr schätzen lerne. Ich kann mich nicht erinnern während meines Studiums die Möglichkeit gehabt zu haben, so intensiv mit Ärzten und Mentoren zusammenzuarbeiten, die trotz des stressigen Praxisalltags eine solche Freude am Unterrichten zeigen. War es zu Beginn in der Zusammenarbeit mit ihm eine teils nicht ganz einfach aufzunehmende Fülle an Fachwissen, so kann ich zunehmend die Erklärungen und Konzepte von Dr. Machac einordnen, seinem stufen-basierten diagnostischen Denken besser folgen und auch einiges für mich abspeichern.
Ich finde es immer wieder spannend zu beobachten, wie vielschichtig die Medizin wird, wenn Krankheiten sich vermenschlichen und in Fleisch und Blut, atmend, lachend, auch jammernd, sprudelnd, ausufernd oder nachdenklich, in sich gekehrt vor einem sitzen anstatt eine Reihe von nüchternen Stichpunkten abzubilden. Wie viel an Eigenheiten und Persönlichem jeder Patient mitbringt, was in der Diagnostik und Therapiewahl mit berücksichtigt werden muss und mir jedes Mal vor Augen führt, dass praktisch gelebte Medizin oft so anders läuft als an der Uni gelerntes Lehrbuchwissen.
Dank der Montagsfortbildungen verinnerliche ich zunehmend die deutlich praxis- und patientenorientiertere Herangehensweise an Krankheiten: Was sagt der Patient und zu welchen Symptomen passen die von ihm geschilderten Beschwerden? Was sind Vermutungen oder Auffassungen des Patienten selbst, was hinter den Beschwerden stecken könnte? Mit welchen Erwartungen kommt er? Welche Leitsymptome kristallisieren sich heraus und wie lassen sich diese in seine Vorgeschichte einordnen? Was sind abwendbar gefährliche Verläufe, die ich differenzialdiagnostisch im Hinterkopf behalten, abfragen und ausschließen muss? Was ist meine Verdachtsdiagnose und was die nächsten diagnostischen Schritte, um diese zu erhärten – welche können hier bei uns und welche im weiteren Verlauf eventuell beim Spezialisten angegangen werden? Welche therapeutischen Optionen gibt es und für welche wird sich – oft zusammen mit dem Patienten im Sinne des shared decision makings – im ersten Schritt entschieden? In welchem Abstand sind weitere Kontrollen und eine weitere Betreuung des Patienten nun sinnvoll, um die Therapie eventuell anzupassen?
Gerade zu Beginn meiner Zeit hier fand ich es herausfordernd, mich mit jedem Patienten auf einen neuen Menschen mit neuer Geschichte und oft einer Fülle an eingestreuten Einzelheiten einzustellen und mich davon nicht überflutet zu fühlen, sondern die wesentlichen Details aus der Anamnese herauszufiltern, zu ordnen und präzise auf den Punkt zu bringen. Dort, wo nötig, genauer hinzuhören und nachzufragen, jedoch an anderen Stellen Abstriche machen zu lernen, um sich nicht in Einzelheiten zu verstricken und unnötig Zeit zu verlieren. Es gibt noch so viel zu lernen, aber nach und nach merke ich, dass es mir hilft dank des Lernumfelds hier eine innere Struktur aufzubauen, an der ich mich orientieren kann.
Umso mehr schätze ich Dr. Machacs pragmatische, teilweise minimalistische, gleichzeitig immer sehr überlegte und auf logischen Prinzipien basierte Art der Medizin. Wiederholt lässt er mich rätseln, welche Ursachen eines Krankheitsbildes (z.B. der sekundären Hypertonie oder der Leberzirrhose) die häufigsten sind und somit besonderes Augenmerk erfordern und was die nächsten Schritte einer Stufendiagnostik wären, um diese weiter zu eruieren. „Ich behandele keine Laborwerte, sondern Menschen. Mach dir immer bewusst: wie geht es dem Patienten, der vor dir sitzt“ ist eines seiner Prinzipien, welches ich die Woche über an der Behandlung verschiedener Patienten beobachten kann – sei es, das Abwarten mit einem Cholesterinsenker bei erhöhten Cholesterinwerten einer älteren, auf ihre Spaziergänge an der frischen Luft schwörenden Patientin, die stand-by Mitgabe eines Antibiotikums bei unkomplizierter Divertikulitis, oder die Medikamentenanpassung bei laborchemisch auffälliger, aber symptomfreier Hypokaliämie. So kann ich von seiner klaren, aufs Wesentliche konzentrierten und trotzdem gründlichen Art sehr viel mitnehmen und bin gespannt auf die nächste Woche.
Woche 8: 18.01. – 24.01.
Trotz der vielen COVID-bedingten Einschränkungen und unseres stillgelegten Alltagslebens scheint die Zeit gerade zu verfliegen. Nun, Ende Januar, ist die Hälfte meines Tertials bereits überschritten. Manchmal lasse ich meine Gedanken in die nächsten Wochen wandern und frage mich, was ich in der verbleibenden Zeit noch von hier mitnehmen möchte. Durch den Einblick in die ganz unterschiedlichen Arbeitsweisen der Ärztinnen und Ärzte habe ich schon unheimlich viel für mich gelernt, wachse Schritt für Schritt hinein in mehr Selbstsicherheit, Struktur und Selbstständigkeit. Ich nutze meine dankbare Position als Studentin und lasse mich von Dr. Machac nicht nur ausfragen, sondern werfe auch ihm im Gegenzug Fragen zu, was uns beiden Spaß macht. Jetzt, in der dritten Woche bei ihm, hat sich unser Zusammenarbeiten eingespielt und ich merke, wie er mir nach und nach mehr Freiheiten überlässt, was mir wirklich Freude bereitet. Zunehmend kann ich die Beschwerden meiner PatientInnen richtig einordnen und diagnostizieren. Es ist jedes Mal ein kleines Glückserlebnis, wenn ich die nächsten Schritte, die ich immer häufiger gemeinsam mit ihnen überlege mit jenen übereinstimmen, die auch die behandelnde Ärztin oder Arzt im Anschluss vorschlagen.
Obwohl sich ab und zu schon ein bisschen Routine abzeichnet, kommen täglich viele neue Dinge dazu, die ich noch nicht weiß und gerne nochmal nachschlagen möchte. Mir wird immer wieder bewusst, wie viel es noch zu lernen gibt und wie vereinnahmend der ärztliche Beruf auch werden kann. Wie lernt man, da später eine gute Balance zu finden? Sich weiterzubilden, nachzulesen, aber auch Abstriche zu machen, um sich zum Ausgleich anderen Dingen zu widmen? Die Unsicherheit auszuhalten, der man sich bei dieser Wissensfülle bestimmt immer wieder stellen wird und dennoch seine PatientInnen nach bestem Wissen und Gewissen beraten zu können?
Da ist es eine große Bereicherung, Teil eines so engagierten und unterstützenden Teams zu sein, das sich im Rahmen von Fallvorstellungen, Fortbildungen und Journal Clubs regelmäßig austauscht und gegenseitig weiterbildet. Mitte der Woche findet die zweite Runde des Journal Clubs statt, der jeden Monat zunächst praxisintern, dann in der darauffolgenden Woche auch mit externen Kolleginnen und Kollegen abgehalten wird. Dafür werden verschiedene aktuelle Papers oder neue Versionen von Leitlinien vorbereitet und gemeinsam in der Gruppe diskutiert. Eine der besprochenen Studien zum Beispiel erweist sich als besonders praxisrelevant: sie schlägt einen neuen validierten Fragebogen als Entscheidungsinstrument vor, um das Risiko der relativ häufig angegebenen „Penicillinallergie“ leichter abschätzen zu können. Im Praxisalltag kommt es nicht selten vor, dass man PatientInnen mit einer zurückliegenden allergischen Reaktion auf Penicillin gegenübersitzt und sich unsicher die Frage stellt: kann ich dieses wichtige und für viele Indikationen das Medikament erster Wahl trotzdem geben oder muss ich auf ein anderes ausweichen?
Anhand von vier einfachen Fragen können wir zukünftig schnell das Risiko des/der PatientIn für eine allergische Reaktion bestimmen und haben somit eine Grundlage, um individuell beraten zu können. In unserer Diskussionsrunde erzählen ältere, erfahrene und junge KollegInnen dann auch von ihren persönlichen Erfahrungen rund um das Thema Penicillinallergie. Unter anderem berichtet eine der Ärztinnen von ihrem Vorgehen, die PatientInnen bei erstmaliger Gabe einfach für eine Stunde in der Praxis zu beobachten – ein Vorschlag, den bestimmt einige von uns nach diesem Treffen für sich mitnehmen werden. Diesem angeregten Austausch von einerseits evidenzbasierter Medizin und gleichzeitig persönlichen Erfahrungen und Geschichten mit PatientInnen oder individuell erprobten Herangehensweisen zu lauschen ist für mich als heranwachsende Ärztin unheimlich spannend und ich habe nach den Sitzungen oft das Gefühl, wieder etwas gelernt zu haben, was ich in keinem Lehrbuch hätte finden können.
Mit einem schmunzelnden „merk dir noch was: es hilft keinem etwas, wenn man sich für die Medizin verausgabt. Es ist auch wichtig, als Mensch glücklich zu sein“, verabschiedet mich Dr. Machac ins Wochenende. Zwischen all dem medizinischen Fachwissen erzählt er mir auch immer wieder von seinen Streifzügen mit der Kamera durch die Natur. Für diese Möglichkeit, hier sowohl wissenschaftliche als auch kleine menschliche Weisheiten sammeln zu können, bin ich sehr dankbar!
Woche 9: 25.01. – 31.01.
Zu Beginn dieser Woche ist es wegen des Wintereinbruchs etwas ruhiger in der Praxis. Während es draußen schneestürmt und sämtliche unserer PatientInnen vermutlich mit Schnee schaufeln beschäftigt sind, kann ich mir zwischendurch die Zeit nehmen, um mich ein paar Themen intensiver zu widmen. Zusammen mit Frau Dr. Kleudgen gehe ich die neu eingetroffenen Laborergebnisse durch. Mit dabei sind unter anderem auch die Blutwerte eines jungen rumänischen Patienten, den wir bereits in der Fallbesprechung letzte Woche diskutiert hatten. Bei seinem Check-up ist als Zufallsbefund eine klinisch unauffällige, mikrozytäre hypochrome Anämie aufgefallen, die, wie sich nun herausstellt, nicht durch die häufigste Ursache – den Eisenmangel – erklärt werden kann. Die Kommunikation mit dem Patienten war wegen der Sprachbarriere wohl schwierig. Er lebt in sehr prekären Verhältnissen und hat aufgrund seiner eng getakteten, unflexiblen Arbeitszeiten kaum die Möglichkeit, Arzttermine wahrzunehmen. So haben wir im Team beschlossen, gleich im ersten Schritt eine großzügigere Diagnostik zu veranlassen und uns klar gemacht, wie wichtig es in einem solchen Fall ist, den Patienten nicht aus den Augen zu verlieren. Ich nehme mir die Zeit, die Patientenakte und genaue Konstellation seiner Blutparameter nochmal unter die Lupe zu nehmen, erfahre, dass die Anämie wohl schon seit seiner Kindheit bekannt ist und lese mich in die Anämiediagnostik ein. Da vieles in Richtung einer mild ausgeprägten Thalassämie deutet, recherchiere ich die Prävalenzzahlen dieser Krankheit in Rumänien und versuche herauszufinden, inwiefern weitere Diagnostik und Therapieoptionen indiziert sind. Ich bin gespannt, auf welche nächsten Schritte wir uns im Team in der kommenden Fallbesprechung einigen.
Es freut mich, diese Woche seit Längerem mal wieder in Schöfweg mit Frau Dr. Kleudgen zusammenzuarbeiten. Was ich an ihr wirklich sehr zu schätzen gelernt habe, ist ihre direkte und nachforschende Art, den Dingen auf den Grund zu gehen. Immer wieder fällt mir ihr aufmerksamer, wacher Blick auf, mit dem sie ihren PatientInnen begegnet und sie wahrnimmt. Oft hakt sie im Gespräch an der entscheidenden Stelle nach und stellt eine einzige gezielte Frage, mithilfe derer sich diffuse Beschwerden sofort klarer herauskristallisieren und abgrenzen lassen, wie zum Beispiel: „Sie haben nun von mehreren Problemen berichtet. Was genau ist es, was Sie im Moment am meisten plagt?“, „Was konkret an Ihren Schmerzen ist jetzt anders als zuvor?“, „Sie kennen diese Beschwerden ja bereits länger. Was führt Sie genau heute damit zu mir, was ist heute anders als sonst?“, „In welcher Situation treten die Beschwerden auf? Können Sie nochmal genau beschreiben, welche Bewegungen Sie konkret gemacht haben?“, „Eigentlich geht es Ihnen momentan gut, sagen Sie. Soll sich noch irgendetwas ändern?“ oder „Haben Sie das Gefühl, Sie sind jetzt wieder ganz der Alte?“.
So treffen wir in diesen Tagen gemeinsam auf einige PatientInnen, deren Diagnostik und Therapie durch etwas Feingefühl in eine klarere Richtung gelenkt werden können. Einer von ihnen ist ein Ende 60-jähriger, trainierter Patient mit Sportlerpuls von 56/Minute und anhaltendem Schwindel – passend zu unserer Fortbildung rund um das Thema Schwindeldiagnostik diese Woche. Der Vortrag war super, sehr praxisrelevant, und hat uns die zentrale Rolle der Anamnese sowie ein paar einfach durchzuführende klinische Tests näher gebracht. Nachdem sich hinter dem Begriff „Schwindel“ oft alles Mögliche verstecken kann, habe ich für mich vor allem diese Frage mitgenommen: „Können Sie bitte mal möglichst genau Ihre Wahrnehmungen beschreiben OHNE das Wort Schwindel zu verwenden?“ – „Ganz schwummrig wird mir im Kopf“, antwortet der Patient und fährt mit seinen Händen durch die Luft. „Gibt es bestimmte Auslöser für dieses Schwummrigsein?“ – „Vor allem wenn ich meine Sit-ups mache. Dann muss ich aufhören, sonst müsste ich mich übergeben.“ Beim Husten sei es wohl auch schon mal aufgetreten, bei einfachem Aufstehen aus dem Sitzen eher nicht. Kardiologisch wurde der Patient bereits vorher abgeklärt, auch der Kipptischtest war negativ. Da sich in unserem Gespräch herauskristallisiert, dass dieses „Schwummrigkeitsgefühl“ vor allem in Situationen mit erhöhtem intrathorakalen Druck auftritt, tippt Frau Dr. Kleudgen auf eine anstrengungsbedingte Vagusreizung und bittet den Patienten bis zum nächsten Kontrolltermin zu beobachten, ob sich eine Besserung durch Umstellung auf Übungen ohne starke Bauchpresse feststellen lässt.
Dieses genaue Hinschauen, Beobachten, Nachhaken, wodurch sich vieles schon im direkten Patientenkontakt mit Anamnese und Untersuchung herausarbeiten lässt, sind weitere Punkte, welche ich sehr dankbar von hier mitnehme. Dazu passt noch ein Satz aus dem Vortrag, den ich mir für die Zukunft merken möchte: „Die Diagnose in der Patientenakte ist immer von gestern. Es ist deshalb so wichtig, neugierig zu bleiben, offen zu sein, und sich immer wieder selbst ein Bild zu machen“.
Woche 10: 01.02. – 07.02.
Anfang der Woche begleite ich das Ehepaar Dr. Schoder in das Impfzentrum Freyung, wo auch ÄrztInnen aus unserer Praxis die Impfteams unterstützen. Dieter und Irmengard Schoder, die bis vor ein paar Jahren noch die Praxis in Schöfweg geführt haben, sind nun teilweise im Ruhestand. Fr. Dr. Schoder arbeitet noch in Teilzeit in der Praxis, aber beide beteiligen sich sehr rege an unseren Montagsfortbildungen und lassen uns dadurch an ihrem reichen Erfahrungsschatz teilhaben. Nachdem wir uns bis jetzt nur digital in den Videokonferenzen begegnet sind, freue ich mich auf die Gelegenheit, die beiden nun richtig kennen zu lernen. Sie sind unheimlich sympathisch und engagiert, haben bereits im Vorhinein einen Ordner mit allen wichtigen Informationen zur COVID-Impfung und der nicht ganz unkomplizierten Impfstoffzubereitung angelegt und schicken mir abends noch eine kleine Nachricht – „… wenn man schon mal einen Ikea-Schrank aufgebaut hat, schafft man auch das!“
Für uns drei ist es das erste Mal, dass wir bei den COVID-Impfungen mithelfen. Nach einer kurzen Einweisung vor Ort sind wir schnell ein eingespieltes Team und impfen an diesem Vormittag eine ganze Reihe an 80+ PatientInnen, welche die Impfung allesamt gut vertragen. Besonders schön ist allerdings die gemeinsame Fahrt hin und zurück. Um 7 Uhr morgens holen die beiden mich in Kirchberg ab, und wir fahren zusammen in ihrem braunen VW-Bus über noch schlafende Orte und Hügel, während sie mir von Langlaufausflügen und aus ihrem 30-jährigen Arbeitsleben in Schöfweg erzählen. Dr. Schoder hat eine Zusatzausbildung in Psychotherapie gemacht und hier später lange Zeit eine Balint-Gruppe geleitet. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass es immer wieder Situationen mit PatientInnen gab, in denen ich einfach nicht wusste, wie ich mit ihnen rede oder wie ich ihnen im Gespräch weiterhelfen kann. Das war meine eigentliche Motivation, mich tiefer mit der Psychotherapie zu beschäftigen.“
Gleich an einem der nächsten Tage führe ich selbst ein nicht ganz einfaches Gespräch mit einer jungen Patientin und denke an unseren Austausch zurück. Die Patientin war zur Abklärung lang anhaltender Müdigkeit bereits zur Blutentnahme da und kommt nun zur Besprechung der Laborergebnisse. Im Gespräch merke ich, wie sehr sie darauf gehofft hatte, dass ihre Blutwerte alles erklären könnten, aber zu ihrer Enttäuschung sind diese komplett unauffällig. Ich versuche ein bisschen tiefer zu gehen, um herauszufinden, wie es ihr sonst geht und bitte sie, mir ihr Müdigkeitsgefühl genauer zu beschreiben. Ihr Schlaf sei gut, aber ohne 4 Tassen Kaffee käme sie in der Früh gar nicht mehr heraus. Diese Schlappheit ziehe sich den ganzen Tag hin. „Ich kann mich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Ich lese ein paar Zeilen, schaue dann aus dem Fenster.“ – sie lässt ihren Blick irgendwo weit in der Ferne haften – „und weiß ein paar Sekunden später nicht mehr, was darin stand.“ Mir kommt es vor, als hätte sie eine Barriere zwischen sich und ihrem Innenleben hochgezogen, durch die es auch für mich schwierig ist zu erahnen, was gerade in ihr vorgeht. Was ihr im Moment noch Freude bereitet? „Vor Corona bin ich gerne Tanzen gegangen“, meint sie nüchtern. Doch all das sei momentan nicht mehr möglich, eigentlich könne sie sich gerade zu nichts aufschwingen. „Ach noch was, ich fange leicht an zu weinen, bin gereizt, ich weiß auch nicht warum. Ich dachte, das sei vielleicht normal“, erwähnt sie nebenbei in einem distanziert ironischen Unterton. In dem, was sie beschreibt, erahne ich, dass eine depressive Verstimmung Ursache ihrer schnellen Ermüdbarkeit sein könnte. Aber was ist im Moment überhaupt noch normal?, frage auch ich mich. Geht es nicht vielen Menschen in dieser schwierigen COVID-Lage gerade ähnlich? Wie könnte man dieser Patientin nun weiterhelfen?
Ich frage, ob sie vielleicht selbst Vermutungen hat, woher ihre Beschwerden kommen könnten. „Ich hatte gehofft, ich hätte irgendeinen Mangel. Irgendetwas muss sich doch finden lassen, so komme ich in meinem Alltag jedenfalls nicht mehr klar“, meint sie. Ich versuche vorsichtig, meine Verdachtsdiagnose Depression anzusprechen, ob sie sich das vorstellen könne. Ich spüre, dass wir uns auf dünnem Eis bewegen. Die Patientin könnte sich jederzeit komplett verschließen und das Vertrauen verlieren. Einen Moment ist sie stutzig – ich spüre meine eigene Unsicherheit in mir pochen, habe ich sie damit vielleicht vor den Kopf gestoßen? Sie hält inne, ich versuche die Stille auszuhalten. Dann meint sie zögerlich „Ja schon… vielleicht“.
Zusammen mit Sarah Moschko, die auch dazukommt, versuchen wir herauszuarbeiten, welche Ressourcen die Patientin momentan noch hat. Gibt es irgendetwas, wo Sie momentan Kraft tanken können? „Ich habe eine Katze, die lässt sich gern streicheln.“ Sarah druckt ihr den PHQ9-Fragebogen zur Bearbeitung bis zum nächsten Gespräch aus, zu dem wir sie einbestellen, um nochmal eine tiefergehende Diagnostik bezüglich einer Depression zu machen. Dann skizziert sie schon mal die verschiedenen Therapiemöglichkeiten, damit die Patientin sich diese in Ruhe durch den Kopf gehen lassen kann. Sarah strahlt trotz ihrer wenigen Monate Arbeitserfahrung bereits so viel herzenswarme Souveränität aus und zeigt volles Engagement, der Patientin helfen zu wollen, dass diese sich nach dem Gespräch, trotz anfänglicher Schutzbarriere, so glaube ich, wirklich gehört fühlt.
Für mich ist es das erste Mal, dass ich den Verdacht einer Depression in einem Patientengespräch eingefädelt habe. Ich merke, wie viel Last es einem abnimmt, die PatientInnen nicht hier und jetzt auf der Stelle diagnostizieren und behandeln zu müssen, sondern ihnen Zeit für das Sacken lassen einer Verdachtsdiagnose geben zu können, und die Freiheit zu haben, sie für die nächsten Schritte wieder einzubestellen. Das zu erfahren, gibt mir Sicherheit und Gewissheit, dass es in manchen Fällen auch ok ist, nicht sofort handeln zu müssen, sondern ein gewisses Maß an Unsicherheit erst mal auszuhalten, um den weiteren Weg im Verlauf gemeinsam mit den PatientInnen zu entscheiden.
Woche 11: 08.02.-14.02.
Zusammen mit den beiden Assistenzärztinnen Svenja Nitsche und Sarah Moschko verbringe ich die Woche in Lalling und habe somit alle Standorte der Gemeinschaftspraxis Bayerwald einmal kennen gelernt. Es ist schwer zu sagen, wo es mir am besten gefällt – alle der insgesamt sechs Praxen haben ihre eigene Atmosphäre und man lernt in jeder doch nochmal einen etwas anderen Blickwinkel auf die Allgemeinmedizin kennen. Gleichzeitig ist das eine der großen Stärken dieses Praxisnetzwerks, finde ich: die große Bandbreite an verschiedenen ÄrztInnen mit unterschiedlichem Arbeitsstil und Schwerpunkten, die dennoch in regem Austausch stehen und sich alle für die gleiche Art Medizin einsetzen. Ich schätze es sehr, in diesem Team eine solche Vielfalt miterleben zu können.
Da sich mein erstes Tertial nun schon langsam dem Ende zuneigt, schlagen mir Sarah und Svenja vor, vermehrt zu versuchen, PatientInnen wirklich komplett selbstständig zu beraten – d.h., von Anamnese, über Untersuchung, bis hin zu Verdachtsdiagnose und weiteren Therapieüberlegungen – und sie erst im Anschluss dazu zu holen, um ihnen dann den gesamten Fall vorzustellen. Ich arbeite unheimlich gern mit den beiden zusammen und bin immer wieder sehr fasziniert, was sie nach dieser kurzen Zeit Praxiserfahrung bereits an Kenntnissen erworben haben, wie engagiert und herzlich sie sich ihrer PatientInnen annehmen, sie beraten und unterstützen, und sich dabei auch immer wieder gegenseitig unter die Arme greifen und weiterhelfen. Da die Uni für beide noch nicht lange her ist, können sie mir aus ihrer eigenen Erfahrung Tipps geben, was gerade in Hinblick auf das mündliche Examen oder dann für den Berufseinstieg im Anschluss wichtig ist, sich anzueignen.
Sie legen mir nahe, wie hilfreich es ist, sich bei Anamnese und Untersuchung innerlich eine eigene Struktur aufzubauen, was auch ich zunehmend an mir selbst beobachten kann. Auch wenn es manchmal gar nicht so leicht ist zu erfassen, was ich bei der Fülle an Begegnungen mit unterschiedlichen PatientInnen bereits alles gelernt habe, so habe ich, gerade was den selbstsicheren und zunehmend auch eigenständigen Umgang mit PatientInnen betrifft, hier viel für mich mitgenommen. Vor allem bei häufigen Beratungsanlässen, wie beispielsweise Rückenschmerzen, kann ich immer öfter auf mein inneres Raster zurückgreifen, um dann darüber hinaus auf die eigenen Nuancen einzugehen, die jede/r PatientIn mit sich bringt, ohne mich in Details zu verlieren. Andererseits gibt es immer noch viele Situationen, in denen ich sehr dankbar bin, ihre Rückenstärkung zu haben und noch nicht allein die Verantwortung tragen zu müssen. Aber auch Svenja und Sarah können in komplexen Fällen jederzeit bei einem/r der FachärztInnen nachfragen, was gerade zu Berufsbeginn sehr viel Sicherheit gibt und diese frühe Eigenständigkeit im ambulanten Bereich direkt nach der Uni, denke ich, überhaupt erst möglich macht.
Im Laufe der Woche nutze ich noch die Gelegenheit, Petra Weinmann, unserer Spezialistin für Diabetes-PatientInnen über die Schulter zu schauen. Sie ist Hauptansprechpartnerin bei den Kontrollterminen im Rahmen des DMP-Programms für Diabetes und hat durch den regelmäßigen Kontakt sowie das oft schon jahrelange Begleiten einen engen Draht zu ihren PatientInnen, was sehr schön ist, zu beobachten. Mit viel Empathie führt sie oft nicht einfache Gespräche über die Frage des Beginns einer Insulintherapie oder über Ernährungsumstellung bei Diabetes. Im Gespräch eruiert sie die Befürchtungen sowie den Willen ihrer PatientInnen, sich präventiv für einen gesünderen Lebensstil einzusetzen und versucht mit ihnen gemeinsam ein Ziel herauszuarbeiten. „Eine Diabetesdiagnose ist für viele verbunden mit einer großen Last an Entscheidungen und Kontrollen. Mir liegt es am Herzen, dass meine PatientInnen sich nicht unter Druck gesetzt fühlen ihren Lebensstil komplett ändern zu müssen und von nun an nur noch mit lauter Verboten zu leben. Das Wichtigste ist für mich, dass die Lebensqualität erhalten bleibt. Ich versuche das Essverhalten meiner PatientInnen kennen zu lernen – ihnen mitzuteilen: das bist halt Du, verurteil Dich nicht deswegen. Auf keinen Fall sollen sie bei jedem Essen ein schlechtes Gewissen haben. Die PatientInnen sollten lernen, sich zu disziplinieren, kleinere Portionen zu sich zu nehmen, aber sich auch weiterhin was gönnen dürfen, zum Beispiel einen Wohlfühltag einzubauen und dann mit Bewegung auszugleichen.“ erklärt sie mir. „Ich möchte, dass Du mit gutem Gefühl hier herausgehst.“, legt sie ihrer Patientin nahe, mit der sie soeben die neu angesetzte Insulintherapie besprochen hat. Gerade was das Angehen solch zeitintensiver und komplexer Themen wie der Diabetesbetreuung betrifft, scheint es mir für die PatientInnen sehr wertvoll, hier eine so fachkundige Betreuung genießen zu dürfen.
Donnerstag morgen werde ich von einer Schar tanzender Luftschlangen und einem bunt verkleideten Praxisteam überrascht – und bekomme mangels eigener Verkleidung noch rechtzeitig eine Luftschlange ins Haar gebunden bevor es mit der Sprechstunde losgeht. Die Helferinnen, allesamt Freude versprühend hinter ihren bemalten Masken, haben eine große Ladung Krapfen mitgebracht. Auch den PatientInnen huscht immer wieder ein Schmunzeln übers Gesicht, wenn eine Ärztin mit Schildkröte oder Seepferdchen auf dem Kopf zur Tür herein kommt, oder ihnen ein Katzenschnurrbart bei der Blutentnahme zu grinst – aber wie Petra an diesem Tag meint „Gerade in dieser Zeit ist es doch besonders wichtig, dass wir auch einfach mal wieder lustig zusammen sein können.“ Das hat diese Praxis jedenfalls drauf!
Woche 12: 15.02. – 21.02.
Ich möchte an dieser Stelle endlich einmal über die Freizeitmöglichkeiten und das Zusammenleben hier auf dem Kirchenberg schreiben, was beides einen ganz wesentlichen Teil des PJ-Tertials ausmacht. Ich bewohne die Einzelwohnung mit eigener Wohnküche, Bad und Schlafzimmer, bin aber nur wenige Schritte über den Flur von meinen MitbewohnerInnen in der größeren Wohnung entfernt, sodass wir letztlich alle eine gemeinsame WG bilden. Gerade in dieser seltsam isolierten COVID-Zeit, in der man sich schnell mal alleine fühlt, ist es umso wohltuender, immer wieder die Möglichkeit menschlicher Gesellschaft genießen zu können. Wir haben mit unserem eigenen Zimmer jederzeit einen Rückzugsort, verbringen aber auch gern gemeinsame Stunden in dem gemütlichen Wohnzimmer. Es ist einfach sehr schön, in dieser intensiven Zeit hier Menschen um sich zu haben, die ähnliches erleben und vergleichbare Höhen und Tiefen durchlaufen. Sich bei einem gemeinsamen Abendessen oder einer Tasse Tee über den Tag austauschen zu können, von schwierigen oder interessanten PatientInnen und Situationen zu erzählen, tut sehr gut und ist mit Teil des umfassenden Lernprozesses, den man hier durchläuft.
Ein paar Wochen nach mir ist Jonas, mein Mit-PJler, mit in die WG auf dem Kirchenberg eingezogen. So konnten wir uns in unserer gemeinsamen Zeit hier einige medizinische Projekte vornehmen – wie z.B. sämtliche Fälle aus den wöchentlichen Falldiskussionen nachverfolgen oder Untersuchungsabläufe und Krankheitsbilder wiederholen – aber auch in den Zwischenpausen die Spazierwege rund um den Kirchenberg oder neue Kochrezepte in unserer Küche ausprobieren. Seit kurzem sind nun auch noch Kathi und Julia mit dabei, zwei Famulantinnen, die uns für eine kürzere Zeit Gesellschaft leisten. Öfters mal sind wir dann auch zu zweit in der Sprechstunde, was sich sehr schön eignet, um an sich gegenseitig das Ultraschallen zu üben oder gemeinsam PatientInnen zu sehen und sich im Anschluss Feedback zu geben. Somit ist das Zusammenleben mit den anderen Studierenden hier nicht nur medizinisch sondern auch in der Freizeit wirklich eine große Bereicherung.
Gerade ohne Auto hatte ich zu Beginn etwas Bedenken, wie ich mich hier fortbewegen würde, aber dank der Mitfahrgelegenheit bei meinen MitbewohnerInnen, sei es zum Einkaufen, zu Ausflügen oder auch zu den verschiedenen Praxisstandorten – zu denen ich oft glücklicherweise auch von den sehr engagierten MFAs mitgenommen werde – war das für mich überhaupt kein Problem. Zwar ist das Freizeitangebot durch COVID sicherlich etwas eingeschränkt, aber dennoch bin ich unheimlich froh, diese schwierige Zeit von Natur umgeben verbringen zu dürfen. An den Wochenenden erkunde ich oft zu Fuß die Gegend (ich liebe meine Streifzüge durch den Winterwald, in dem der Schnee sich jetzt langsam zurückzieht und das Frühlingslicht sich seinen Weg durch die Baumwipfel bahnt), gehe eine Runde joggen, probiere mit Kathi zusammen das Langlaufen aus (die Langlaufski lassen sich übrigens ganz unkompliziert und günstig durch die Ehefrau von Dr. Blank über den Schiverein Kirchberg ausleihen), oder breche gemeinsam mit den anderen zu einer größeren Wanderung auf.
Auch an diesem Samstag nutzen wir vier die Sonne und aufkeimenden Frühlingsgefühle, um einer Wanderempfehlung von Sarah Moschko zu folgen und einen Ausflug zum Dreisesselberg zu unternehmen. Er liegt nahe des Nationalparks und des Dreiländerecks und ist knapp eine Stunde mit dem Auto von Kirchberg entfernt. Gleich nach dem Frühstück brechen wir auf zu diesem sagenumrankten Berg, den auch Adalbert Stifter als „geologischen Wunderberg“ bezeichnete. Durch dichten Hochwald, vorbei an moosbedeckten Steinen und wilden Tannen geht es ziemlich steil hoch zum Gipfel. Dort, so erzählt es die Sage, hätten die Könige von Bayern, Böhmen und Österreich auf drei Felssesseln gethront, um über den Verlauf ihrer Landesgrenzen zu verhandeln. Hier oben ragen tatsächlich mehrere bizarre Steinhaufen in den Himmel, dahinter erstreckt sich ein Meer aus, vom Borkenkäfer angefressener Fichten. Bei einem wunderbaren, atemberaubend weiten Blick in alle Himmelsrichtungen lassen wir uns auch auf einem der großen Felsbrocken nieder und genießen ein Picknick in der Mittagssonne. Nach etwa 5 Stunden sitzen wir müde, aber glücklich im Auto zurück nach Kirchberg. Ein sehr besonderer Wochenausklang!
Woche 13: 22.02. – 28.02.
In diesen Tagen spüre ich schon das Ende meines Tertials heranrücken und kann einfach nicht glauben, wie schnell die Zeit verfliegt. Einerseits bin ich gespannt, was im nächsten Tertial auf mich wartet – wie es sich nun anfühlen wird, nach meiner Zeit hier ans Krankenhaus zu gehen, mit der Rückenstärkung und der wachsenden Eigenständigkeit, die ich hier erfahren durfte? Wie ich mich wohl im Vergleich zum Beginn meiner Zeit hier verändert habe, in der Begegnung mit den PatientInnen, in meiner Herangehensweise an Diagnostik und Therapieentscheidungen, im Umgang mit der Fülle an Wissen und Nichtwissen? Andererseits werde ich bei dem Gedanken an den baldigen Abschied auch ein bisschen traurig, so integriert fühle ich mich mittlerweile in dieses Team, welches mir über all die Wochen ans Herz gewachsen ist.
Zusammen mit Frau Dr Kleudgen habe ich bereits am Freitag vergangener Woche noch bis abends im Impfzentrum Freyung gearbeitet, was zwar ziemlich stressig war, mir aber dank unserer eingespielten Frauenpower-Teamarbeit sehr viel Spaß gemacht hat. Diese Woche verbringe ich nochmal bei ihr in Schöfweg in der Praxis. Es ist schön zu bemerken, wie mir die ÄrztInnen nach und nach mehr Eigenständigkeit zutrauen und ich mittlerweile auch in komplexere PatientInnenfälle selbstverständlich mit involviert werde. So bittet sie mich beispielsweise in der Akte einer Hausbesuchspatientin nachzuforschen, wie wir bei ihr weiter vorgehen sollten. Bei der bereits Ende 80-jährigen Patientin wurde schon vor Jahren als Zufallsbefund die asymptomatische Vorstufe eines Multiplen Myeloms diagnostiziert, eine Monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS), deren Verlauf regelmäßig durch Blutentnahmen kontrolliert wird. Ich recherchiere die Kriterien für die Verlaufskontrolle, versuche mir anhand früherer Arztbriefe und der Laborkontrollen zumindest in digitaler Form ein Bild über den Zustand der Patientin zu machen und stelle ihren Fall bei unserer nächsten Fallbesprechung vor. Müssen wir bei dem kontinuierlich ansteigenden Leichtketten-Quotienten engmaschiger oder zusätzlich etwas kontrollieren, um den Übergang in ein Multiples Myelom nicht zu verpassen?
Nicht selten bringt die Diskussion im Team mehr Gewissheit und neue Anstöße, wodurch anschließende Diagnostik und Therapie fokussierter angegangen werden können. So empfiehlt Dr. Machac zum Beispiel noch das einmalige Abnehmen von zwei weiteren Blutparametern mit prognostischer Bedeutung. Frau Nitsche berichtet aus Erfahrung im Rahmen ihrer Doktorarbeit, dass engmaschigere Kontrollen jenseits der 90 Jahre generell eher nicht mehr zu empfehlen seien: Die Wahrscheinlichkeit des Übergangs eines MGUS in ein Multiples Myelom beträgt pro Jahr nur 1% und die therapeutischen Konsequenzen wären in diesem hohen Alter ohnehin sehr belastend. Und Dr. Blank betont seinen Grundsatz, dass wir Menschen und keine Laborwerte behandeln und weitere Schritte im gemeinsamen Gespräch mit der Patientin entschieden werden sollten. Vor allem bei solch komplexeren Fällen und der Frage – wie führe ich meine Patientin weiter? – erweist sich dieses Zusammenbringen von verschiedenen Perspektiven und Erfahrungsschätzen als sehr wertvoll. Wie es der Zufall will, sitzt ein paar Tage später erneut ein Patient vor mir, bei dem im Rahmen eines Klinikaufenthalts der Verdacht auf ein MGUS gestellt wurde. Durch unsere Fallvorstellung ein paar Tage zuvor kann ich mich erinnern, welche weiteren Fragen ich dem Patient stellen und auf welche Laborwerte ich achten muss. Im gemeinsamen Gespräch versuche ich dem Patienten, welcher die Verdachtsdiagnose bisher nicht wirklich vermittelt bekommen und verstanden hat, in einfachen, klaren Sätzen zu erklären, worum es sich dabei handelt. Es berührt mich, als er sich danach sichtlich weniger verwirrt bei mir für meine Mühe bedankt. Das sind die kleinen Momente, in denen ich merke, dass ich hier doch unmerklich mehr und mehr in meine Rolle als Ärztin geschlüpft bin.
Ende der Woche, am letzten Abend der beiden Praktikantinnen Kathi und Julia, kochen wir nochmal alle zusammen und lassen die letzten Wochen an uns vorbeiziehen, erzählen von lustigen Begebenheiten aus unserem Praxisalltag und lachen gemeinsam bis uns die Tränen kommen – Momente voller Unbeschwertheit, die nach Abschied und Neuanfang schmecken. Ich werde die beiden vermissen. Es war sehr besonders, hier zusammen ein paar Wochen so intensiv in eine Welt eingetaucht zu sein. Jetzt ziehen wir dann bald wieder alle unserer eigenen Wege. Wer weiß, vielleicht kreuzen sie sich ja nochmal, hier oder anderswo…
Woche 14: 01.03. – 07.03.
Freitag Nachmittag sitze ich im Zug zurück nach Hause – mit einem weinenden und einem lachenden Auge – und blicke auf meine letzte Woche im Bayerwald zurück, welche gefüllt war von Abschlussgesprächen und Abschied nehmen. Ich spüre tiefe Dankbarkeit, mein erstes Tertial in diesem wunderbaren Team verbracht zu haben und bin mir sicher, nun mit mehr Selbstvertrauen und Eigenständigkeit in das nächste Kapitel starten zu können. Gerade was meinen Umgang mit PatientInnen betrifft, meine innere Haltung, mit der ich ihnen begegne – nicht mehr als Studentin sondern zunehmend als Ärztin – so konnte ich in diesem Lernumfeld unheimlich viel für mich mitnehmen. Immer wieder habe ich mich während des Studiums gefragt, ob ich mich in der Medizinwelt wirklich sehen kann. Im Rückblick haben mich die 4 Monate hier sehr geprägt und ich habe das Gefühl, nun Schritt für Schritt in diese neue ärztliche Rolle hineingewachsen zu sein. Dafür bin ich sehr dankbar! Ich habe selten so intensiv in einer solch motivierenden, unterstützenden Lernatmosphäre gearbeitet wie hier, wo einem die Möglichkeit gegeben wird, die eigenen Stärken herauszulocken, zu erproben und zu entfalten. Es wird viel von einem gefordert, aber wenn man bereit ist zu geben, bekommt man sehr viel zurück.
Durch das vielfältige Weiterbildungsangebot über den Praxisalltag hinaus, die Fortbildungen, Fallbesprechungen und Journal Clubs konnte ich mir nicht nur Schritt für Schritt eine innere Struktur anlegen, sondern habe kritisches Reflektieren von Diagnostikmethoden und Therapien gelernt, habe einen Einblick bekommen, wie evidenzbasierte Medizin funktioniert, wie Wissen generiert wird, und wo sich Nicht-Wissen nachschlagen lässt. Gerade was den Umgang mit Wissenslücken angeht, ist das offene Angebot, hier immer seine KollegInnen um Rat fragen zu können und unterstützende Antworten zu erhalten, sehr wertvoll. Dieses Zusammenarbeiten und sich unter die Arme greifen, anstatt der vielen Einzelkämpfe, die oft in der Medizin ausgefochten werden, habe ich als sehr besonders empfunden. Die ÄrztInnen und MFAs sind alle unterschiedlich, sodass man von jeder und jedem von ihnen einen neuen Aspekt oder Blickwinkel mitnehmen kann – und dennoch setzen sich alle für die gleiche Art von Medizin ein. Das Bild von Dr. Blank, das er mir bei unserem Abschlussgespräch nahelegt, beschreibt es sehr passend, finde ich: er sieht seine Rolle als Dirigent eines Orchesters, in dem jede und jeder ein eigenes Instrument spielt – durch seine herzlich offene, unheimlich engagierte Art und die Zusammenarbeit von allen entsteht daraus ein großes, harmonisches Ganzes, in dem sich die vielfältigen Stimmen ergänzen. Ich habe mich während meiner Zeit hier sehr gut integriert und gewertschätzt gefühlt und finde es wirklich bewundernswert, was dieses Team auf die Beine stellt!
Der Abschied von den vielen wunderbaren Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind, fällt mir nicht leicht und ich hänge in den nächsten Tagen in Gedanken immer wieder an Erinnerungen und Erfahrungen, die ich mit mir tragen werde. Wie mir Frau Dr. Kleudgen als Ermutigung für die nächsten Schritte mit auf den Weg gibt – „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Ich bin gespannt, was die nächsten Wochen mit dieser neu gewonnenen Energie mit sich bringen werden und freue mich sehr, wenn sich unsere Wege wieder kreuzen – auf welche Art und wann auch immer…
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