
Peter Philipsborn
Praktisches Jahr
10.07.2017 – 27.10.2017
Hallo! Wie schon meine PJ-Vorgänger möchte ich an dieser Stelle jede Woche über meine Erfahrungen im Wahltertial Allgemeinmedizin berichten.
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Nach acht Monaten in der Schweiz kam ich für das letzte Tertial meines Praktischen Jahres in die Gemeinschaftspraxis im Bayerwald in Kirchberg im Wald. Ich hatte die Praxis vor knapp zwei Jahren im Rahmen des Blockpraktikums Allgemeinmedizin kennengelernt, und wusste seitdem, dass ich für das Praktische Jahr hierher zurückkehren würde.
Über vieles ließe sich schreiben, um die Arbeit und das Leben hier zu charakterisieren. Von den vielen Aspekten möchte ich für diesen ersten Beitrag einen herausgreifen: Der wissenschaftliche Geist und der hohe fachliche Anspruch, der die Arbeit hier prägt.
Evidenzbasierte Medizin wird üblicherweise definiert als medizinisch-praktische Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung und bewusster Integration der bestverfügbaren wissenschaftlichen Evidenz, klinischer Erfahrung und Patientenpräferenzen. Genau dieses Prinzip – die Berücksichtigung und Integration der drei Dimensionen Evidenz, Erfahrung und Patientenpräferenzen und die Umsetzung dieser in die Praxis – wird hier in verschiedener Hinsicht sehr konsequent umgesetzt.
Ein Beispiel hierfür sind die regelmässig stattfindenden Journalclubs des Praxisnetzes GUAD (GUAD steht für „Gut Betreut im Arberland“; es ist ein Netzwerk von mehreren Einzel- und Gemeinschaftspraxen). Die Teilnehmenden sind niedergelassene Haus- und FachärztInnen aus der Region, ÄrztInnen in Weiterbildung aus Praxen und den beiden regionalen Kliniken und PJ-Studierende und Famulanten. JedeR hat die Möglichkeit, aktuelle Fachartikel, Leitlinien-Updates oder andere relevante Texte vorzuschlagen und vorzubereiten; im jeweils nächsten Journal-Club werden diese dann zunächst in Kleingruppen besprochen und dann der Gesamtgruppe vorgestellt und in dieser diskutiert.
Ich konnte ein Thema übernehmen, das ursprünglich von Julia Friedl vorgeschlagene worden war, einer Ärztin in Weiterbildung aktuell im Krankenhaus Viechtach, die Nachtschicht-bedingt kurzfristig verhindert war. Es handelt sich um die aktuelle S2k-Leitlinie zur Akuttherapie und Management der Anaphylaxie, und speziell den Umgang mit der Ausstattung von PatientInnen mit Notfallmedikamenten. Die Leitlinie empfiehlt, alle PatientInnen, die einmalig eine anaphylaktische Reaktion gegen ein nicht sicher vermeidbares Allergen erlitten haben, mit einen Notfallset auszustatten, bestehend aus einem oralen Glucocorticoid, einem oralen Antihistaminikum und einem Adrenalin-Autoinjektor. Eine anaphylaktische Reaktion wird von der Leitlinie wiederum definiert als eine „akute systemische Reaktion mit Symptomen einer allergischen Sofortreaktion, die den ganzen Organismus erfassen kann und potenziell lebensbedrohlich ist“, wobei die Leitlinie die Unschärfe dieser Definition und die vielen abweichenden Verwendungen des Begriffs anerkennt.
Auch wenn es zu diesem Thema, wie in der Leitlinie thematisiert, nur wenige wissenschaftliche Studien gibt (seltene, unvorhersehbar auftretende und potentiell lebensgefährliche Notfallsituationen mit z.B. randomisiert-kontrollierten Studien zu untersuchen ist praktisch und ethisch oft schwierig) kann die Leitlinie als die beste im Moment verfügbare wissenschaftliche Evidenz zu dieser Frage gesehen werden, weshalb ihre Empfehlungen Berücksichtigung finden sollten. Wie aber sollte man in Grenzfällen verfahren? Kurz vor dem Termin des Journal-Clubs war ein gut 50-jähriger Patient notfallmässig in unsere Praxis gekommen, der eine Stunde zuvor von einer Wespe gestochen worden war und daraufhin leichten Juckreiz am ganzen Körper entwickelt hatte, sich etwas schummrig fühlte und ein pelziges Gefühl und eine leichte Schwellung im Mund verspürte. In unserer Praxis war er zu jedem Zeitpunkt kardiopulmonal stabil mit einem Blutdruck von 150/85 mmHg bei bekannter arterieller Hypertonie und ruhiger Atmung. Die subjektiven Beschwerden bildeten sich unter 200 mg Prednisolon i.v. innerhalb von 20 Minuten zurück.
Waren in diesem Fall nun die Definitionskriterien der Leitlinie erfüllt oder nicht? Sollte man diesen Patienten mit einem Notfallset ausstatten (einem nicht ganz billigen Päckchen von rund 15x15x20 cm Größe, dass leitliniengemäß immer und bei jeder Gelegenheit mitgeführt werden muss, nicht ganz einfach zu handhaben ist und jedes Jahr durch ein Neues ersetzt werden muss)? Was, wenn man weiß, dass der oder die PatientIn realistisch betrachtet das Notfallset meistens nicht dabei haben wird? Was tun, wenn die Indikation für ein Notfallset nach klinischem Urteil eigentlich nicht erfüllt sind, eine PatientIn jedoch sehr risikoavers und sicherheitsbedürftig ist und sich ein Notfallset ausdrücklich wünscht? Zu diesen Fragen die Erfahrungen der anwesenden ÄrztInnen zusammenzutragen, abzugleichen und vor dem Hintergrund der Empfehlungen der Leitlinie zu diskutieren war höchst spannend, und ein Paradebeispiel für evidenzbasierte Medizin in der Praxis. (Dem Patienten aus der Praxis hatten wir kein Rezept für ein komplettes Notfallset, wohl aber zwei Cortison-Tabletten à 50 mg aus dem Praxisbedarf mitgegeben, einschließlich des Rats diese bei wiederauftretenden Beschwerden sofort einzunehmen und sich dann auch schnellstmöglich in ärztliche Behandlung zu begeben – eine der verschiedenen Möglichkeiten, mit einer solchen Situation umzugehen).
Woche 2
Ein zentrales Merkmal evidenzbasierter medizinischer Praxis ist es, die eigenen Routinen immer wieder kritisch auf den Prüfstand zu stellen, wenn neue wissenschaftliche Evidenz hierzu Anlass gibt. Dies ist besonders wichtig bei häufig auftretenden Krankheitsbildern und alltäglichen Problemen – gerade für solche entwickelt man Routinen, und gerade bei diesen ist allein durch die Zahl der betroffenen PatientInnen der potentielle Nutzen besonders groß.
Es war und ist in vielen Kliniken gängige Praxis, bei PatientInnen nach tiefer Beinvenenthrombose (TVT) Kompressionsstrümpfe anzuwenden. Grund hierfür ist, dass die Entstehung eines postthrombotischen Syndroms (PTS) verhindert werden soll. Das PTS ist eine mögliche Komplikation einer TVT, die – so die gängige Lehrmeinung – durch eine Schädigung der Venenklappen und einer folgenden Varikosis mit chronisch-venöser Insuffizienz bedingt ist.
Kompressionsstrümpfe sind nicht besonders beliebt bei PatientInnen – und so fragte letzte Woche eine betroffene Patientin in unserer Praxis, ob sie denn wirklich unbedingt diese fürchterlich engen Strümpfe tragen solle (gerade jetzt im Sommer!), und was denn da eigentlich der Nutzen sei. Schnell auf AMBOSS nachgeschlagen fand ich dort den Hinweis dass ja, eine Kompressionstherapie nach TVT unbedingt empfehlenswert sei um das Auftreten eines PTS zu verhindern. Zu Beginn solle die Kompression mittels elastischen Wickelverband erfolgen, und nach dem Nachlassen der anfänglichen Schwellung durch angepasste Kompressionsstrümpfe, die für mindestens 3 Monate getragen werden sollten, je nach Verlauf und insbesondere bei Anzeichen für eine chronisch-venöse Insuffizienz auch länger, gegebenenfalls lebenslang.
Ich selber hätte mich hiermit zufrieden gegeben, denn als Medizinstudent im Jahr 2017 bin ich spätestens seit der Examensvorbereitung darauf konditioniert, dass gilt was AMBOSS sagt. Doch Dr. Blank hatte in Erinnerung, dass die besagte, auch in AMBOSS dargestellte Lehrmeinung von einer neueren Studie grundlegend in Frage gestellt worden sei, und bat mich, der Sache auf den Grund zu gehen.
Als Quelle wird auf AMBOSS die S2k-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Venenthrombose und der Lungenembolie“ vom Oktober 2015 genannt – und in dieser heißt es tatsächlich unmissverständlich: Um Häufigkeit und Schwere des postthrombotischen Syndroms zu reduzieren, sollte [nach TVT] frühzeitig mit einer Kompressionstherapie begonnen werden. Die Leitlinie führt aus, dass in zwei Studien aus den Jahren 1997 und 2004 ein Nutzen für die Kompressionstherapie nach TVT nachgewiesen wurde. Eine Studie aus dem Jahr 2014 konnte zwar keinen Nutzen zeigen, diese hätte jedoch methodische Mängel, so dass die Leitlinienautoren an der Empfehlung für eine Kompressionstherapie festhalten.
Bei der besagten Leitlinie handelt es sich um eine S2k-Leitlinie – das heißt eine konsensbasierte Leitlinie (das k steht für Konsens), die von einer repräsentativen Leitliniengruppe unter Beteiligung aller relevanten und interessierten Fachgesellschaften entwickelt wurde, allerdings ohne systematische Literatursuche- und synthese (wäre eine solche zusätzlich zum konsensbasierten Verfahren durchgeführt und bei der Leitlinienerstellung berücksichtigt worden würde es sich um eine S3-Leitlinie handeln, der höchsten Leitlinien-Entwicklungsstufe).
Eine schnelle PubMed-Suche mit den Suchbegriffen stocking* AND thromb* und dem Suchfilter „Meta-Analysis“ und „Systematic Reviews“ liefert vier aktuelle systematische Übersichtsarbeiten zur Frage, ob eine Kompressionstherapie nach TVT helfen kann, ein PTS zu verhindern: Berentsen 2016, Burgstaller 2016, Jin 2016, und Perrin 2016. Berentsen 2016 stellt fest, dass die methodisch besten Studien keinen Nutzen einer Kompressionstherapie nach TVT zeigten. Burgstaller 2016 führt aus, dass die vorliegenden Studien unterschiedliche Ergebnisse zeigten, und verzichtet (im Abstract) auf eine klare Aussage bezüglich des Nutzens einer Kompressionstherapie. Jin 2016 poolt die Ergebnisse der vorliegenden Studien in einer Meta-Analyse, welche keinen Nutzen einer Kompressionstherapie nach TVT zeigt, weist aber auch auf die Heterogenität der Studienlage hin und fordert weitere Forschung zu diesem Thema. Perrin 2016 schließendlich führt aus, dass zwei Studien mit sehr guter Therapieadhärenz (in denen die PatientInnen ihre Kompressionsstrümpfe also tatsächlich regelmässig trugen) einen Nutzen nachweisen konnten, die anderen Studien mit schlechterer Adhärenz den Bedingungen der Realität aber näher kämen. Offen bliebe jedoch die Frage, ob es vielleicht Subgruppen von PatientInnen mit TVT gäbe, die von einer Kompressionstherapie profitieren könnten….
Was heißt das nun für unsere Patientin? Aus den genannten Studien und Übersichtsarbeiten lassen sich sicherlich unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen, aber für mich lautet die vorläufige Quintessenz, dass wir (noch) nicht sicher sagen können, ob eine Kompressionstherapie nach TVT etwas nützt oder nicht. Gerade wenn die Evidenz uneindeutig ist (aber nicht nur dann) erscheint es besonders wichtig, PatientInnen eine gut und ausgewogen informierte eigene Entscheidung zu ermöglichen. Das nächste Mal würde ich einer Patientin wie der eingangs erwähnten daher vielleicht Folgendes erklären:
„Manchmal werden durch eine Thrombose die Venen im Bein so geschädigt, dass sich Krampfadern entwickeln. In einigen Fällen können sich daraus Durchblutungstörungen mit schmerzhaften Schwellungen bis hin zu offenen Stellen an den Beinen entwickeln. Dies nennt man postthrombotisches Syndrom. Viele Experten glauben, dass Kompressionsstrümpfe helfen können, dies zu verhindern. Sie sollten jedoch wissen, dass nur manche Patienten dieses Syndrom entwickeln, und es bei Ihnen selbst dann auftreten kann, wenn Sie Kompressionsstrümpfe tragen. Vielleicht senken Kompressionsstrümpfe die Wahrscheinlichkeit, dass ein postthrombotisches Syndrom auftritt, aber ganz sicher wissen wir das nicht. Experten empfehlen, für mindestens drei Monate Kompressionsstrümpfe zu tragen – aber wie gesagt, ob dies wirklich etwas bringt wissen wir nicht sicher. Mein Vorschlag wäre, dass wir Ihnen ein Rezept für Kompressionsstrümpfe mitgeben und Sie diese ausprobieren und sich dann in Ruhe überlegen, ob sie diese weiter tragen möchten. Ende der Woche können wir uns dann wieder in der Sprechstunde sehen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wäre das so in Ihrem Sinne? Habe Sie jetzt noch Fragen, oder Dinge die Sie gerne besprechen möchten?“
Ein letzter Caveat noch: Über den Nutzen einer Kompressionstherapie aus anderen Gründen – etwa zur TVT-Prophylaxe nach Operationen, oder bei bereits bestehender chronisch-venöser Insuffizienz – ist damit noch nichts gesagt. Wie gut die Evidenz für einen Nutzen bei diesen Indikationen ist weiß ich nicht, aber das ist ein anderes Thema.
Woche 3
Donnerstag morgen in der Praxis, ein neuer Patient, 50 Jahre, kommt zum ersten Mal zu uns, da sein alter Hausarzt in den Ruhestand gegangen ist, ohne einen Nachfolger zu finden. Eigentlich kommt er nur, um sich ein Rezept für seine Medikamente zu holen – ein Antihypertensivum (eine Fixkombination aus Ramipril und Amlodipin), Diclofenac und Pantoprazol als Bedarfsmedikation bei Rückenschmerzen. Ich messe den Blutdruck, der Wert ist passabel mit 135/85 mmHg. Ich blättere die alte, noch papierbasierte Patientenakte seines bisherigen Hausarztes durch, ein Laborblatt vom April diesen Jahres fällt mir in die Hand, mit einem Gesamtcholesterin von 220 mg/dl, und Triglyceriden von 700 mg/dl. Ob er schon einmal einen Cholesterinsenker genommen habe, frage ich – ja, doch, sein alter Hausarzt habe ihm mal so was empfohlen, aber genommen habe er es nie. Ich starte den Risiko-Rechner von Arriba, gebe seine Werte ein – er rauche, schon so ein Päckchen pro Tag, und ja, sein Vater sei an einem Schlaganfall gestorben, mit 45, aber Diabetes habe er keinen. Für Sport habe er keine Zeit, und auch sein Habitus passt dazu, dass er sich als Liebhaber der traditionellen bayerischen Küche zu erkennen gibt. Zusammen mit seinen unter Antihypertensiva hoch-normalen Blutdruckwerten und erhöhten Gesamt-Cholesterin und gerade noch normwertigen HDL-Cholesterin von 40 kommt er damit auf ein Risiko von 32%, während der nächsten 10 Jahre einen Herzinfarkt oder ein Schlaganfall zu erleiden.
Die bloße Vorstellung, das von 3 Patienten wie ihm einer während der nächsten 10 Jahre ein solches immer potentiell lebensbedrohliches Ereignis erleiden wird, ist für mich schwer zu fassen – gerade weil Arriba eine solche individualisierte Quantifizierung des Risikos erlaubt, empfand ich es in diesen Moment so, als würden wir Patienten wie diesen im Prinzip sehenden Auges in ihr Verderben schicken. Immerhin, durch eine kombinierte Therapie mit einem Statin und ASS ließe sich das Risiko von 32 auf 22% senken, was natürlich in Segen ist.
Um sein Risiko in den durchschnittlichen Bereich (um genau zu sein, auf 7,9%, ohne zusätzliche Medikation) zu senken, bräuchte er einen Rauchstopp, ausreichend Bewegung und eine gesündere Ernährung.
Ein neues Medikament zu verschreiben, das ist leicht getan, einen Menschen dazu in die Lage zu versetzen, sein Leben umzustellen, seinen Alltag mit neuen, gesünderen Routinen und Ritualen zu füllen, das ist ungemein schwerer. Und es ist auch etwas, worüber wir in unserem Studium nur sehr wenig gelernt haben. Denn, das ist klar, mit einem kurzen Hinweis an eine PatientIn, er oder sie solle mit dem Rauchen aufhören, sich gesünder ernähren und ausreichend bewegen ist es nicht getan. Es gibt evidenzbasierte Methoden und Verfahren, mittels derer PatientInnen effektiv bei Lebensstil-Änderungen unterstützt werden können – etwa Kurzinterventionen nach dem 5-A-Prinzip (Ask – Assess – Advise – Agree – Assist), die für die Unterstützung eines Rauchstopps ebenso wie bei Adipositas eingesetzt werden können.
Auch hierüber mehr zu lernen, und Routine und Erfahrung zu gewinnen in der Beratung von PatientInnen in diesen Fragen, das ist eines meiner Lernziele für dies PJ-Tertial.
Bei dem eingangs erwähnten Patienten müsste es noch um mehr als das gehen – die Triglyceride von 700 mg/dl hätten mich stutzig machen können, doch bewusst wurde es mir erst, als diese später Dr. Blank ins Auge fielen und er den Patienten fragte, wie viel Bier er denn pro Tag so trinke, und er antwortete, dass es so schon so 5, 6 Halbe am Tag seinen, manchmal auch mehr. Es gibt viel zu tun.
Woche 4
Eine der prägendsten Erfahrungen meines Studiums war ein Pflegepraktikum auf einer neurologischen Station mit angegliederter Stroke-Unit, d.h. einer spezialisierten Station für die Akutversorgung von Schlaganfall-Patienten. Nie werde ich den Blick der PatientInnen vergessen, die nach einem Schlaganfall an weiten Teilen ihres Körpers gelähmt waren und die Fähigkeit verloren hatten, zu sprechen oder zumindest sich sprechend verständlich zu machen, und dies alles bei vollen Bewusstsein zu erleben schienen – so viel Leid und existenzielle Verzweiflung konzentriert im Ausdruck zweier Augen; jedes Mal wenn mich ein solcher Blick traf, jagte es mir einen Schauer durch den ganzen Körper. Und dann die eigene Hilflosigkeit angesichts der Fassungslosigkeit und Trauer der Angehörigen, die nach Besuchen oft schluchzend die Station verließen. Diese Station war ein guter Ort, nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen der modernen Medizin zu erfahren.
Einer der wichtigsten Ansätze zur Prävention von Schlaganfällen ist die orale Antikoagulation – d.h. die Gabe eines Mittels zur Hemmung der Blutgerinnung in Tablettenform – bei PatientInnen mit Vorhofflimmern (VHF). VHF ist die häufigste anhaltende Rhythmusstörung, mit einer geschätzten Prävalenz in der Gesamtbevölkerung von 1-2%, und bis zu 10% unter den über 65-jährigen. Die Flimmerbewegung des Herzvorhofs begünstigt die Bildung von Thromben, welche über die linke Kammer, die Aorta und die Karotiden ins Gehirn gelangen und dort einen Schlaganfall auslösen können. Deshalb besteht bei PatientInnen mit VHF ein erhöhtes Schlaganfall-Risiko – wie hoch genau dieses ist hängt von einer Reihe weiterer Faktoren ab, z.B. dem Alter, dem Geschlecht und sonstigen Erkrankungen der PatientIn. Auf Grundlage großer Studien wurde der sogenannte CHA2DS2-VASc-Score entwickelt, der eine genaue Quantifizierung dieses Risikos erlaubt.
Die aktuellen Leitlinien empfehlen, dass alle PatientInnen mit einem CHA2DS2-VASc-Score von mind. 2 (bei Männern) oder mind. 3 (bei Frauen) eine orale Antikoagulation erhalten sollten. Dies senkt das Schlaganfallrisiko und auch die Gesamtmortalität und -morbidität nachweislich ganz erheblich, und kann so helfen, das Leid zu vermeiden, das ich während meines Pflegepraktikums so eindrucksvoll erlebt hatte. Doch keine Wirkung ohne Nebenwirkung, und so sind auch orale Antikoagulanzien ein zweischneidiges Schwert: Sie können zwar das Risiko für ischämische, d.h. thromboembolisch bedingte Schlaganfälle senken, erhöhen aber auch das Risiko für Blutungen, u.a. Magen-Darm-Blutungen und Blutungen im Gehirn. Um das Risiko für solche schwerwiegenden Blutungen unter oraler Antikoagulation abzuschätzen, gibt es wiederum einen anderen Score, den HAS-BLED-Score. Dieser kann helfen, PatientInnen mit erhöhten Blutungsrisiko zu identifizieren und bei diesen veränderbare Risikofaktoren für Blutungen zu minimieren. Außerdem sollten wegen des erhöhten Blutungsrisikos PatientInnen natürlich wirklich nur dann eine orale Antikoagualation erhalten, wenn diese gemäß des jeweils aktuellen CHA2DS2-VASc-Score also auch tatsächlich indiziert ist.
Deshalb ist es wichtig, bei allen PatientInnen mit Vorhofflimmern den CHA2DS2-VASc-Score zu kennen, und bei allen PatientInnen unter oraler Antikoagulation den HAS-BLED-Score. In der Eile des Praxisalltags ist natürlich oft keine Zeit, diese Scores zu bestimmen – und so ist die Idee für ein Projekt entstanden, mit dem meine PJ-Kollegin Wibke und ich uns die nächsten Wochen beschäftigen werden: zusammen mit den medizinischen Fachangestellten der Praxis werden wir von allen betroffenen PatientInnen die beiden Scores bestimmen, diese im Notizfeld der elektronischen Patientenakte gut sichtbar dokumentieren, und auf dieser Grundlage jeweils die Indikation für die orale Antikoagulation überprüfen und bei erhöhten Blutungsrisiko prüfen, ob vermeid- oder veränderbare Risikofaktoren für Blutungen vorliegen.
Auch das ist moderne Medizin im besten Sinne: Die Möglichkeiten evidenzbasierter Algorithmen, zeitgemäßer IT-Technik und guter Teamarbeit zu nutzen, um für alle PatientInnen mit den verfügbaren Ressourcen die jeweils besten Therapieentscheidungen zu finden, und so menschliches Leid zu verhindern, und möglichst vielen Menschen ein möglichst langes, schönes und gutes Leben zu ermöglichen.
Woche 5
Was mich seit meinem ersten Pflegepraktikum ganz zu Beginn des Studiums mit am meisten an der Medizin fasziniert, sind die Einblicke, die sie in das Leben von Menschen und damit in unsere Gesellschaft erlaubt. Die Medizin und ihr äußerer Rahmen, das Gesundheitssystem, begegnet und begleitet die Menschen bei den fundamental bedeutsamen Lebensereignissen Konzeption, Schwangerschaft, Geburt, Krankheit, Sterben und Tod – und bei vielen Kleinerem und Größerem dazwischen, bei der Jugendarbeitsschutzuntersuchung vor dem ersten Job, bei persönlichen Krisen, bei den ersten Anzeichen des Alterns, und dann beim Fortschreiten von diesem. Spricht man mit Patienten, so erfährt man oft vieles über ihr Leben, und darüber was ihnen dieses bedeutet, was es für sie mit Sinn und Inhalt füllt, wie ihr Alltag aussieht, was sie sich wünschen, was ihre Ziele und Ängste sind. In die Anamnese, und in den von uns mit Befunden und Diagnosen erfassten Gesundheitsstatus scheint oft eine ganze Lebensgeschichte eingeschrieben zu sein – bei der 80-jährigen Bäuerin mit Coxarthrose, die von der Arbeit auf den Feldern erzählt und davon, dass sie nicht mehr wolle, als noch einmal ohne Schmerzen zu dem Hof und den Stall mit den Kälbern zu laufen, wo sie ihr ganzes Leben verbracht habe; der 16-Jährige, der von der Arbeit überfordert und von seinen Arbeitskollegen gemobbt seine Ausbildung abbrechen will und flehentlich um eine Krankmeldung bittet; die 50-jährige ehemalige Altenpflegerin mit chronischen Schmerzen und einer zwei Seiten langen Medikamentenliste, die erzählt wie sie vor 8 Jahren nach einer Nachtschicht im Sekundenschlaf von der Fahrbahn abkam, und seitdem nicht wieder auf die Beine gekommen sei.Dies gilt für die Medizin ganz allgemein – doch nirgends habe ich diesen Aspekt der Medizin so umfassend und intensiv erlebt wie hier während meines PJ-Tertials in der Allgemeinmedizin. Denn in der Klinik begegnen einen nur PatientInnen, die schwer genug krank sind dass dies eine Einweisung rechtfertigte; und, und dies ist vielleicht noch wichtiger, im Krankenhaus sind sie aus ihrem Alltag und ihrem Umfeld gerissen, und – so scheint es oft – mit Barcode-Bändchen und im einheitlich gemusterten Krankenhaushemd ihrer Individualität beraubt und auf das Dasein als Patient reduziert. Das Setting der Institution Krankenhaus und die Rollenverteilung Personal versus Insassen mit ihrer ausgeprägten Macht- und Informationsasymmetrie prägt auch das Arzt-Patientenverhältnis in der Klinik, und erschwert dort das Kommunizieren auf Augenhöhe.
Wie anders ist dies in der Hausarztpraxis – hier erlebt man PatientInnen als Menschen inmitten ihres alltäglichen Lebens und in ihrem gewohnten, dem sie prägenden Umfeld. Hier lernt man, was Gesundheit und Krankheit für Menschen in ihrem Alltag bedeutet, hier erfährt man unmittelbar wie Diagnosen, Befunde und Beschwerden das Leben von Menschen verändern, wie sie damit umgehen, auf sie reagieren und sich unter ihnen verändern. Und hier wird einem auch bewusst, wie Gesundheit und Krankheit mit all dem anderen verwoben ist, was dem Leben von Menschen Sinn, Inhalt und Erfüllung gibt. In keinem anderen Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens ist man so nah am Leben der Menschen, für deren Gesundheit man durch die Wahl des eigenen Berufes Verantwortung übernommen hat.
Aus diesem Grunde glaube ich, dass, egal in welchem Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens man einmal arbeiten möchte, Erfahrungen in der Allgemeinmedizin ganz essentiell sind, um eine gute Ärztin oder ein guter Arzt zu werden – und das Praktische Jahr ist mit die beste Gelegenheit hierfür.
Ich selber weiß noch nicht, ob ich mein Leben als Hausarzt verbringen werde – zwar hat mir die Allgemeinmedizin von allen medizinischen Fächern bislang die positivsten Erfahrungen geboten, aber vielleicht wird mein Platz später einmal doch ein anderer sein. Denn mein Herz schlägt auch für die Forschung, und für die Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen von Gesundheitsversorgung und Gesundheit im Allgemeinen. Dazu zu forschen, darüber nachzudenken, und dafür zu arbeiten, wie sich Gesundheitsversorgung am besten organisieren lässt, und wie wir als Gesellschaft gesündere Lebensbedingungen für uns alles schaffen können – auch dies fasziniert und beschäftigt mich, und vielleicht wird mich mein Weg auch weiter in diese Richtung führen. Doch auch dafür kann ich mir bessere Vorbereitung vorstellen als die Arbeit hier in der Hausarztpraxis, denn erst hier habe ich begonnen zu verstehen, was uns Gesundheit in unserem Leben bedeutet.
Woche 6
Nicht nur über das Leben der Menschen hier lerne ich viel, sondern auch sehr viel klassisch Klinisch-Praktisches, über Ätiologie, Pathogenese, Klinik, Diagnostik und Therapie. Die Arbeits- und Betreuungsverhältnisse hier erlauben einen höchst effektiven, vielfältigen Lernmodus.
Dieses Lernen beginnt damit, dass meine Mit-PJlerin Wibke und ich den Vormittag wechselnd an einem der vier Praxisstandorte verbringen; dort führen wir mit den in die Sprechstunde kommenden PatientInnen die Anamnese, körperliche Untersuchung und soweit nötig weitere Diagnostik durch, und rufen dann eine der ÄrztInnen hinzu um das Beratungsergebnis und das weitere Procedere zu besprechen. (Das Beratungsergebnis kann eine exakte Diagnose sein, oder auch nur ein Symptom, eine Symptomgruppe, das Bild einer Krankheit oder ein Befund ohne Krankheitswert). Diese 1:1-Betreuung durch erfahrene ÄrztInnen mit teils jahrzehntelanger praktischer Erfahrung und neben der Allgemeinmedizin weiteren unterschiedlichen fachlichen Hintergründen ist gigantisch.
Daneben können wir uns zwischen den einzelnen PatientInnen immer auch Zeit nehmen, um Dinge nachzulesen und nachzurecherchieren. Die Praxis verfügt über Zugänge zu UpToDate, Deximed, dem Arzneimitteltelegram und der Cochrane Library, und über Computer in (fast) jedem Zimmer, so dass eine effiziente und zugleich umfassende Recherche jederzeit möglich ist. Die praxisinterne Dokumentation ist vollständig digitalisiert und über eine übersichtliche und perfekt integrierte Praxissoftware organisiert, so dass ein paar Mausklicks reichen, um sich einen Überblick über Medikation, Untersuchungs- und Laborergebnisse, Vorbefunde und vorliegende Arztbriefe von FachärztInnen und Kliniken zu verschaffen. (Es ist enorm, wie sehr allein dies die Arbeit erleichtert und hilft, schneller bessere Entscheidungen zu treffen und Fehler zu vermeiden – man kann sich nur wundern, wie anachronistisch die oft noch im vor- bis frühdigitalen Zeitalter steckengebliebenen Dokumentationssysteme vieler Unikliniken im Vergleich dazu doch sind). In das Verordnungs-Plugin der Software ist eine Arzneimitteldatenbank integriert, welche übersichtlich formatiert Inhaltsstoffe, Indikationen, Dosierungshinweise, Nebenwirkungen und Warnhinweise auflistet, und so ein mühsames Recherchieren in der Roten Liste erspart.
Im Anschluss an die Vormittagssprechstunde gibt es eine Fallbesprechung mit den an den vier Praxisstandort tätigen, per Videokonferenz zusammengeschalteten ÄrztInnen, bei der schwierige oder unklare Fälle zusammen besprochen werden können – gerade hier zahlt sich aus, dass in der Praxis junge, frisch von der Uni kommende ebenso wie ältere, praxiserfahrene ÄrztInnen zusammenarbeiten.
Die Vormittagssprechstunde dauert vier Stunden, von 8 bis 12 Uhr – lang genug, um jeden Tag mit einen frischen Schatz an neuen Eindrücken und Erfahrungen in die lange Mittagspause zu gehen, welche man dann dazu nutzen kann, Notizen zu machen, Dinge noch einmal vertiefend nachzulesen, das Erlebte sich setzen zu lassen, sich auszuruhen und Sport zu treiben, um dann um 16 Uhr mit frischen Kopf in die zweistündige Nachmittagssprechstunde zu gehen.
Dieser Lernmodus erlaubt das unmittelbare Verknüpfen von Erfahrungswissen, wie man es im Umgang mit individuellen Patienten erwirbt, mit theoretischem Wissen aus Leitlinien, Lehrbüchern und Online-Nachschlagwerken. Für mich ist dies nicht nur eine der effektivsten und effizientesten, sondern auch eine der anschaulichen und lebendigsten Formen des Lernens.
Woche 7
Es versetzt mich immer wieder in Staunen, was wir alles schon wissen – wie der Aufbau und die Funktionsweise der kleinsten Strukturen im Körper, der Ablauf von Stoffwechselvorgängen auf molekularer Ebene, die Entstehung von Krankheiten und die Wirkung von Medikamenten schon so gründlich erforscht und aufgeklärt wurden, wie unglaublich viel feingliedriges Wissen zu so vielen winzig kleinen Detailaspekten von unserem Körper bekannt ist. 27 Millionen Fachartikel sind auf PubMed in Sekundenschnelle mit einem Mausklick durchsuchbar, und jeden Tag, jede Stunde kommen tausende, abertausende neue hinzu, weil überall auf der Welt ForscherInnen damit beschäftigt sind, die Fronten dessen was wir schon wissen und verstehen noch weiter nach Vorne zu verschieben und verbleibende weiße Flecken auf der Landkarte des Wissens mit neuen Erkenntnissen zu füllen. Und was mich nicht minder in Staunen versetzt, ist, was wir alles nicht wissen.
Gestern kam ein junger Patient in die Praxis, ein Hobby-Fußballer, alles an ihm, sein Blick, seine Kleidung, sein Körper, seine Haltung, sprühte Freude an einem Leben in Bewegung aus. Doch er humpelte, denn eine Woche zuvor war er beim Sport mit dem Fuß umgeknickt, im Krankenhaus war dann eine Distorsion des oberen Sprunggelenks (OSG) mit Bänderriss diagnostiziert und mit einer AirCast-Kunststoffschiene versorgt worden. Von uns brauchte er nur eine Verlängerung seiner Krankmeldung – als Zimmermann könne er im so verletzten Zustand nicht arbeiten. Beim Verlassen des Patientenzimmers fragte er dann noch, wie lange er die Schiene denn noch tragen solle – besonders nachts beim Schlafen drücke sie nämlich.
Ja, wie lange also soll er die Schiene tragen? Dass ist eine Frage, die sich wahrscheinlich jeden Tag viele hundert Menschen in Deutschland stellen – denn zu immerhin 2700 OSG-Distorsionen kommt es auf die deutsche Bevölkerung hochgerechnet jeden Tag, bei einer Inzidenz von 12,8 pro 1000 Personenjahren (diese Zahl stammt zugegebenerweise aus den Niederlanden, aber dürfte in Deutschland in einer ähnlichen Größenordnung liegen).
Gemäß meinem üblichen Algorithmus lese ich zuerst auf Amboss nach und dann auf Deximed, und suche nach einschlägigen Leitlinien. Auf Amboss ist nur zu erfahren, dass bei Bandverletzungen des OSGs eine Sprunggelenksorthese angelegt werden könne, sofern starke Schmerzen und/oder Instabilität bestehen – aber keine Information dazu, für wie lange. Auch Deximed hilft nicht weiter, doch eine Suche nach Leitlinien liefert immerhin eine S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie mit dem vielversprechenden Titel „Frische Außenbandruptur oberes Sprunggelenk (OSG)“. Dass die Leitlinie schon seit 2002 nicht mehr aktualisiert wurde ist ein wenig irritierend, und zwar listet auch sie „funktionelle Schienen, Bandagen, Orthesen“ als empfohlene therapeutische Maßnahmen, doch für wie lange diese getragen werden sollen, darüber geht auch sie elegant hinweg.
Bleibt also noch UpToDate als nächste Eskalationsstufe der Recherche, und dort umfasst der Artikel zu „Ankle sprain“ in kleiner Schrift eng gedruckt 37 DIN A4 Seiten – darin sollte man also fündig werden. Und tatsächlich: Bei einer leichten Bänderzerrung, so heißt es dort, reiche meist die Behandlung „mit einer elastischen Binde für ein paar Tage“, und bei mittelstarken Bänderzerrungen könne zusätzlich eine Aircast-Schiene „für bis zu ein paar Wochen“ getragen werden, wobei dies einer frühen Rehabilitierung mit geeigneten Bewegungsübungen nicht im Wege stehen solle. (Alles recht schwammige Formulierungen, und auch ohne Quellenangaben, aber immerhin). Doch bei unserem Patienten war nicht nur eine leichte Bänderzerrung, sondern ein Bänderriss diagnostiziert worden – und mit welcher Art von Schiene und für wie lange solche Patienten versorgt werden sollten, darüber bestehe Unklarheit, schreibt UpToDate: Es gebe zwar diverse Studien hierzu, doch lieferten diese sehr disparate Ergebnisse, und die meisten dieser Studien seien aufgrund von kleinen Teilnehmerzahlen, fehleranfälligen Studiendesigns und unvollständigen Beschreibungen auch nur wenig aussagekräftig. Entsprechend seien auch die vorliegenden systematischen Übersichtarbeiten zu dieser Fragestellung nicht konklusiv.
Wir wissen es also nicht – und das ist doch bemerkenswert: Jedes Jahr erleiden alleine in Deutschland fast eine Millionen Menschen eine OSG-Distorsion (basierend auf den bereits oben zitierten Inzidenz-Zahlen aus den Niederlanden), von denen zwar sicherlich nicht alle, aber doch bestimmt ein guter Teil mit Schienen verschiedener Art versorgt werden – doch wie lange sie diese tragen sollen, das kann ihnen niemand sagen. Dabei wäre dies eigentlich ganz einfach herauszufinden: Aufgrund der hohen Zahl der betroffenen PatientInnen würde es reichen, nur ein paar Tage lang alle PatientInnen, die mit einer OSG-Distorsion in Deutschland eine Arztpraxis oder eine Notaufnahme aufsuchen, nach dem Zufallsprinzip einer von mehreren verschiedenen Gruppen zuzuweisen, die ihre Schienen dann jeweils für unterschiedlich lange Zeit tragen sollen. Bei ihrem nächsten Arztbesuch könnten sie dann nach dem Heilungsverlauf und ihren Beschwerden befragt werden, und so würde sich schnell herausstellen, was der optimale Zeitraum für das Tragen der Schiene ist.
Das einzige, was es hierfür bräuchte, wäre ein Software-Plugin für die in Praxen und Kliniken verwendeten elektronischen Patientenakten, mit dem sich PatientInnen bei alltäglichen Beratungsanlässen in unterschiedliche Therapiegruppen randomisieren, und die im Verlauf routinemäßig erhobenen und dokumentierten Befunde zentral auswerten ließen. So ließen sich, mit minimalen zusätzlichen Kosten, die gigantischen Datenmengen die tagtäglich in Praxen und Kliniken anfallen dazu nutzen, um endlich zuverlässige Antworten zu finden auf alltägliche und gerade deshalb wichtige therapeutische Fragen – Fragen wie ob Ibuprofen oder Paracetamol besser hilft bei muskuloskelettalen Schmerzen; welches der vielen verschiedenen Statine das beste Nutzen-Nebenwirkungsprofil aufweist; ob Phytotherapeutika bei Schnupfen etwas bringen; ob man bei einer Erkältung besser zu hause bleiben oder an die frische Luft gehen sollte; ob Kompressionstrümpfe helfen, nach tiefer Beinvenenthrombose ein post-thrombotisches Syndrom zu verhindern; ob Phenprocoumon, Rivaroxaban, Apixaban oder Dabigatran für die Prävention von Schlaganfällen bei Vorhofflimmern am besten sind; ob Ernährungsberatung bei Adipositas hilft; und viele, viele andere Fragen mehr.
Diese Idee ist so naheliegend, dass sie – natürlich – nicht neu ist; einer ihrer größten Verfechter ist der britische Arzt, Journalist
Im dritten Eintrag dieses PJ-Tagebuchs hatte ich von dem Patienten berichtet, bei dem in der aus anderem Grunde veranlassten Laboruntersuchung die auf 700 mg/dl erhöhten Triglyceride auffielen, und der auf Rückfrage dann erklärte dass es schon so sechs, sieben Halbe seien, die er jeden Tag trinke. Wären meinem Lehrarzt Dr. Blank nicht die Triglyceride ins Auge gefallen, so wäre ich nie auf die Idee gekommen, den Patienten nach seinem Alkoholkonsum zu fragen – sein Gesicht war vielleicht ein klein wenig röter als man es für normal befände, aber ansonsten deutete nichts an ihm auf seine Krankheit hin: Er roch nicht nach Alkohol, war ordentlich gekleidet, und wirkte in allem solide und bodenständig, wie er von seiner Arbeit und seiner Familie berichtete.
So scheint es ganz oft zu sein – auf den ersten Blick augenscheinlich wird die Alkohokrankheit meist erst, wenn es schon viel zu spät ist, wenn sie Körper, Geist, Psyche und Leben des Erkrankten schon bis auf die Grundfesten zerrüttet und zerstört hat. In Deutschland ist schädlicher Alkoholkonsum für den Verlust ähnlich vieler gesunder Lebensjahre verantwortlich wie Diabetes mellitus und Dyslipidämie. Und so selbstverständlich wie wir Metformin und Statine verschreiben, so selbstverständlich sollte es auch sein, alkoholkranken Menschen eine leitliniengerechte Therapie anzubieten.
Was also empfehlen die Leitlinien? Zu unterscheiden sind zunächst die beiden Hauptformen der Alkoholkrankheit: Einerseits der schädliche Alkoholgebrauch, nach ICD-10 definiert als ein Alkoholgebrauch mit nachweislich schädlichen Folgen für die Gesundheit, der über mindestens einen Monat oder wiederholt innerhalb von 12 Monaten auftritt; und andererseits das Alkoholabhängigkeitssyndrom, bei dem eine physische oder psychische Abhängigkeit nach Alkohol besteht, festzumachen an den Kriterien Craving, Kontrollverlust, körperliche Entzugssymptome und Toleranzentwicklung. Die Prävalenz des Alkoholabhängigkeitssyndrom wird in Deutschland auf rund 5% geschätzt, während der schädliche Alkoholkonsum wesentlich häufiger ist, und geschätzt ungefähr 20% der Bevölkerung betrifft. Deshalb sollte auch dieser bereits erkannt, und betroffene PatientInnen entsprechend beraten und unterstützt werden.
In vielen Fällen ist das Vorliegen eines schädlichen Alkoholkonsums eindeutig, so wie es bei unserem eingangs erwähnten Patienten der Fall war. In anderen Fällen kann dies weniger klar sein, und daher empfehlen die deutsche ebenso wie internationale Leitlinien den Einsatz des AUDIT-C Screening-Fragebogens, der aus drei einfachen Fragen besteht, mit denen Ausmaß und Muster des Alkoholkonsums schnell und relativ zuverlässig erfasst werden können. Besteht zudem Verdacht auf eine Alkoholabhängigkeit so können zusätzlich die 4 CAGE-Fragen gestellt werden.
Hat man festgestellt, dass bei einer PatientIn ein schädlicher Alkoholkonsum oder ein Verdacht auf eine Abhängigkeit bestehen so sollte das folgen, was im medizinischen-psychologischen Jargon als Kurzintervention bezeichnet wird; bestehen sollte diese aus drei Teilen: Informieren, Fragen und dem Anbieten von Hilfe.
Zum Informieren gehört, die PatientIn sachlich und ohne zu werten oder Angst zu machen über die gestellte Verdachtsdiagnose aufzuklären – zum Beispiel wie folgt: „Die Angaben, die Sie zu Ihren Trinkgewohnheiten gemacht haben, bedeuten, dass bei Ihnen ein sogenannter ‚riskanter Alkoholgebrauch‘ besteht – also ein Alkoholgebrauch, der mit schädlichen Folgen für die Gesundheit einhergehen kann…“. Zum Informieren gehört zudem die Erklärung, was unter einem risikoarmen Konsum verstanden wird – international unterscheiden sich die entsprechenden Empfehlungen zum Teil ganz erheblich, die deutsche S3-Leitlinie definiert einen risikoarmen Konsum als den Konsum von maximal 2 Standardgläsern pro Tag für Männer, und maximal einem Standardglas pro Tag für Frauen. (Ein Standardglas entspricht dabei 10 g Alkohol bzw. 33 cl Bier, 15 cl Wein oder 2 cl Spirituosen). Etwas differenzierter ist die z.B. in Kanada verbreitete 1-3-4-Regel: Höchstens 1 Glas pro Stunde, höchstens 3 Gläser pro Tag, höchstens 4 Tage in Folge. (Durch das Einhalten alkoholfreier Tage soll dem Entstehen einer Abhängigkeit vorgebeugt werden). Diese Bandbreite in den Empfehlungen kann auch den Patienten kommuniziert werden, z.B. mit den Worten: „Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, was man denn unter einem risikoarmen Konsum versteht. Hierzu gibt es verschiedene Empfehlungen. Eine Empfehlung, an der Sie sich orientieren können, besagt dass…“.
Im zweiten Teil der Kurzintervention sollten Fragen an und von der PatienIn im Vordergrund stehen – begonnen mit der offenen Frage, ob sie oder er Fragen zum bislang Besprochenen habe. Anschließend kann weiter danach gefragt werden, was für eine Bedeutung der Alkohol für sie oder ihn habe, und ob er bzw. sie schon einmal darüber nachgedacht habe, etwas an seinen bzw. ihren Alkoholgewohnheiten zu ändern. Dies kann zum einen helfen, das Alkoholproblem der PatientIn besser zu verstehen, und kann auch die Patientenbindung sichern und so eine Basis für weitere begleitende Unterstützung aufbauen.
Im letzten Teil der Kurzintervention sollte Hilfe angeboten werden – je nach Ausmaß des Problems, der Problemeinsicht, der Veränderungsbereitschaft und der Lebenssituation der PatientIn kann dies Verschiedenes beinhalten; man kann sich auf das niederschwellige Angebot beschränken, bei Wunsch als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen und mit etwas zeitlichen Abstand erneut über das Thema zu sprechen. Oder man kann anbieten, Kontakt zu einer lokalen Beratungsstelle (von denen es viele gibt, auch auf dem Land) zu vermitteln, oder eine Überweisung zu einem Spezialisten auszustellen, das heißt einer PsychotherapeutIn, einer PsychiaterIn oder einer spezialisierten Klinik. Oder man kann mit der PatientIn schon ein konkretes Ziel vereinbaren – z.B., einen alkoholfreien Tag pro Woche einzuhalten, oder jeden Tag ein Bier durch ein Alkoholfreies zu ersetzen – und einen Nachfolgetermin in zwei, drei Wochen Abstand vereinbaren, bei dem bis dahin möglicherweise aufgetretene Schwierigkeiten und weitere Schritte besprochen werden können. (In der Schweiz haben die einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften einen ganz ausgezeichneten Leitfaden zu alkoholbezogenen Kurzinterventionen in der Grundversorgung herausgegeben, der zahlreiche Vorschläge für eine gute Herangehensweise und Tipps für die Gesprächsführung gibt).
Unsere Gesellschaft macht es alkoholkranken Menschen nicht leicht – von den kleinen Schnapsfläschchen an den Supermarktkassen bis zu der allgegenwärtigen Alkoholwerbung, die Getränkeindustrie hat unser Leben durchsetzt mit Triggerreizen, die uns auf Schritt und Tritt daran erinnern und dazu auffordern, weiter und wieder zu trinken. Dies ist, natürlich, ein Skandal, und auch dagegen zu kämpfen zählt, so denke ich, zu den Aufgaben von uns ÄrztInnen – ebenso wie es zu unseren Aufgaben zählt, jeder einzelnen PatientIn mit einer Alkoholkrankheit die beste mögliche Therapie anzubieten, und auch dabei nicht zu vergessen, wie skrupellos und unbarmherzig unsere Gesellschaft mit alkoholkranken Menschen umgeht.
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