
Lisa Führlein
Praktisches Jahr
05.09. – 25.12.2022
Woche 1: 05.09. – 11.09.2022
Gemischte Gefühle begleiten meine Anreise in den Bayerischen Wald – Vorfreude, ein bisschen Nervosität, Erschöpfung von den zurückliegenden Tagen des Tertialwechsels und auch etwas Wehmut, weil das vergangene Tertial mir so gut gefallen hat. Doch spätestens nach Verlassen der Autobahn, als die kurvigen Steigungen des Bayerischen Waldes beginnen und ich die Leistung meines (eigens für mein Tertial hier angeschafften) Autos auf die Probe stelle, überwiegt die Vorfreude – habe ich doch schon nach meiner Famulatur im Exzellenten Winter 2020 den Entschluss gefasst, zum PJ wieder hierher zu kommen. Nach der Ankunft genieße ich erstmal die Ruhe und Aussicht in meinem neuen Zuhause. Ein kleiner Spaziergang durch den Wald rund um den Ort lässt mich entspannen, und in der Sonne habe ich die Hoffnung, dass der Sommer doch noch nicht ganz vorbei ist…
Die Woche startet für mich in der Praxis in Grafenau, wo ich Dr. Blank bei seiner Arbeit begleiten darf. Wie typischerweise an einem Montag ist das Wartezimmer voll und entsprechend schnell das Arbeitstempo. Trotzdem nehmen wir uns für jede Patientin und jeden Patienten die Zeit, die sie oder er braucht. Wenn deutlich wird, dass ein umfassenderes Gespräch oder eine ausführlichere Untersuchung nötig ist, wird dies dem Patienten erklärt und ein neuer Termin vereinbart. Schon an meinem ersten Tag erkenne ich, wie wichtig die offene und deutliche Kommunikation mit den PatientInnen ist. In diesem Tertial möchte ich nicht nur mein fachliches Wissen erweitern – sondern auch mehr Sicherheit im Patientengespräch bekommen.
Dass auch die fachliche Weiterbildung nicht zu kurz kommt, dafür sorgen die zahlreichen Themen- und Fällebesprechungen, bei denen ich gleich von meinem ersten Tag an dabei bin. Die Abklärung von erhöhten Leberwerten, ein unklarer Fall einer blasenbildenden Hauterkrankung, die klinische Unterscheidung von Asthma und COPD – auch die erfahrenen ÄrztInnen sind sich immer wieder unsicher. Dass auch sie nicht alles wissen, sondern dankbar für den Austausch und die Erfahrung von KollegInnen sind, beruhigt mich und zeigt die Vorteile einer engen Zusammenarbeit mehrerer Praxen, wie sie hier gelebt wird.
Nach Grafenau lerne ich in dieser Woche auch die Praxen in Kirchberg und Schöfweg kennen. Alle paar Tage die Praxis zu wechseln, ist anstrengend, insbesondere wenn man die unterschiedlichen Abläufe noch nicht verinnerlicht hat. Doch dadurch habe ich die Chance, gleich zu Beginn meines Tertials alle Praxen sowie Ärztinnen und Ärzte kennenzulernen, um so einen Überblick zu bekommen. Dann kann ich entscheiden, wo und mit wem ich gern längere Zeit zusammenarbeiten würde.
Nach einer Woche voller neuer Eindrücke starte ich nun ins Wochenende, es ist schon eine Wanderung mit den anderen PJlerinnen geplant und im Garten der Grafenauer WG müssen wohl einige Obstbäume abgeerntet werden…
Woche 2: 12.09. – 18.09.2022
"Und was hast du heute gelernt?" – so lautet die tägliche Frage von Dr. Blank, wenn wir nach einem vollen Praxistag auf dem Rückweg nach Kirchberg sind. Und jedes Mal wieder fällt mir die Antwort schwer. Die ganzen Eindrücke, Erfahrungen, Informationen des Tages… wie soll ich die in einem Satz zusammenfassen? Hilfreich ist da die Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Elementen: Wissen, Fertigkeiten, Haltung. Mir Wissen anzueignen, das kenne ich aus der Uni. Die Behandlung eines akuten Gichtanfalls, die richtige Antibiotikatherapie, Definition und Symptome der Herzinsuffizienz – das fachliche Wissen wird selbstverständlich auch hier vermittelt, in der Besprechung mit den ÄrztInnen oder bei meiner Recherche zu Hause. Was in diesem PJ-Tertial eben so wenig zu kurz kommt, ist der Erwerb von Fertigkeiten. Ich weiß es sehr zu schätzen, wie viel ich hier schon jetzt selbstständig arbeiten darf. Ultraschall-Untersuchungen, Wundversorgung, das Entfernen von Fäden oder Klammern – diese Fertigkeiten erfordern praktische Übung, zu der ich hier ausreichend Gelegenheit habe. Das dritte Element, die ärztliche Haltung, ist etwas, was ich bisher meist unterbewusst wahrgenommen habe. Es steht in keinem meiner Notizbücher, es lässt sich nicht recherchieren – man muss es erleben. Der Umgang mit PatientInnen im Gespräch, die Einnahme einer gewissen Rolle in der ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehung, das Aufnehmen der Anliegen der PatientInnen und die Vereinbarung mit den eigenen Überzeugungen, individuelle Entscheidungsfindung. Ich lerne durch Beobachten der ÄrztInnen, wie jede und jeder anders mit PatientInnen und Situationen umgeht – jede und jeder hat seine persönliche ärztliche Haltung gefunden. Und meine eigene zu entwickeln, ist ein genauso wichtiger Lernprozess wie das Pauken von Krankheitserregern und Medikamentendosierungen.
Als wäre die Woche mit der Rotation durch drei verschiedene Praxen nicht schon genug an neuem Input, gibt es dank des derzeit stattfindenden Exzellenten Sommers noch ein zusätzliches Angebot an Weiterbildung. Wir PJlerinnen nehmen am Wissenskurs teil, wo wir die Kleingruppen von Studierenden bei der Recherche unterstützen, wir betreuen den Ultraschall-Workshop und leiten einzelne Gruppen beim Untersuchungskurs. Es macht Spaß zu sehen, wie motiviert die Studierenden sind, die aus ganz Deutschland (und Österreich!) in den Bayerischen Wald gekommen sind, um hier ihre Famulatur zu absolvieren. Vor zweieinhalb Jahren war ich noch eine von ihnen, jetzt kann ich auf Seite der Tutorinnen mein Wissen weitergeben – und dabei natürlich auch selbst noch etwas dazulernen!
Woche 3: 19.09. – 25.09.2022
In Woche drei (kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergeht!) darf ich nun eine weitere Praxis kennenlernen und mit Dr. Kalmancai in Auerbach arbeiten. Das läuft in der Regel so ab: Ich spreche zuerst mit einer PatientIn, untersuche entsprechend, überlege mir einen geeigneten Therapievorschlag bzw. das weitere Prozedere und hole dann den Arzt dazu. Nachdem ich die PatientIn kurz vorgestellt habe, besprechen wir gemeinsam das weitere Vorgehen. Durch die Zeit, die ich für das Patientengespräch und die Untersuchung bekomme, kann ich in Ruhe Anamnese erheben und dabei meine Struktur durchgehen, um nichts zu vergessen. Im Laufe der Ausbildung lernt man, durch gezielte Fragen die Beschwerden der PatientInnen und deren mögliche Ursachen schnell einzugrenzen. Doch dazu ist viel Erfahrung nötig, und gerade jetzt am Anfang hilft es mir, den PatientInnen ausführlich zuhören zu können und viele Fragen stellen zu können. Fragen stellen – das kann tue ich auch in der anschließenden Besprechung mit dem Arzt, und umgekehrt. Beantworten kann ich nicht immer alle, aber genau dann lerne ich dazu.
Dazulernen kann ich auch im EKG-Kurs am Dienstag, der im Rahmen des Exzellenten Sommers stattfindet. Eigentlich sind wir PJlerinnen als Tutorinnen dabei, aber auch wir profitieren von der Wiederholung und erfahren immer wieder neues – wir sind beeindruckt, wie viel die Studierenden schon jetzt wissen! Und doch habe ich das Gefühl, ihnen etwas von meinem Wissen mitgeben zu können. "Kommt das im Alltag denn oft vor, hast du das schonmal in der Praxis gesehen?", "Wie merkst du dir das denn, gibt’s da einen Trick?" – Das ist das, was viele der Studierenden interessiert und wo ich tatsächlich mein kleines bisschen mehr Erfahrung teilen kann.
Meinen schönsten Moment in dieser Woche habe ich bei der Nachkontrolle einer Schnittwunde, die ich in der Woche zuvor genäht hatte. Die Patientin freut sich total, mich zu sehen und bedankt sich für die gute Betreuung und Wundversorgung. Sie habe sich bei mir sehr wohl gefühlt, weil ich ihr so gut zugeredet hätte, das habe sie beruhigt. Ihre Dankbarkeit macht mich mindestens genauso glücklich wie zu sehen, dass die Naht wunderbar heilt. Für solche Momente liebe ich meinen zukünftigen Beruf!
Woche 4: 26.09. – 02.10.2022
In dieser Woche bekomme ich noch einmal die Gelegenheit, an einem Teaching für die Studierenden des Exzellenten Sommers teilzunehmen. Das Thema: Der Umgang mit depressiven PatientInnen. Es geht in diesem Kurs nicht um Faktenwissen und Leitlinien, sondern darum, uns Studierenden Tipps und Erfahrungswerte mit an die Hand zu geben, die die Kommunikation und das Management mit dieser Patientengruppe erleichtern sollen. Einige haben hierzu Fälle aus ihren Praxen mitgebracht, die wir dann gemeinsam besprechen. Wie unterschiedlich schildern PatientInnen depressive Symptome? Wie lässt sich die Schwere einer Depression einschätzen und wie sollte entsprechend gehandelt werden? Wie spricht man das Thema Suizidalität am besten an, wie reagieren PatientInnen darauf? Was tun, wenn in absehbarer Zeit kein Platz für eine ambulante Psychotherapie gefunden werden kann? Besonders letzteres Problem ist nicht zu vernachlässigen, dauert es momentan doch meist mehrere Monate, bis ein geeigneter Therapieplatz frei wird. In dieser Übergangszeit ist die Hausarztpraxis oft der einzige Ansprechpartner für die Betroffenen. Doch beim Versuch, ihnen diese so wichtige regelmäßige Anbindung zu ermöglichen, kommen Praxen schnell an ihre Grenzen. Zu wenig Zeit, die PatientInnen oft und lang genug zu sprechen – und doch eine Verantwortung, die man schwer abgeben kann, wenn vorübergehend keine psychotherapeutische Behandlung möglich ist. Eine Studentin berichtet von einem Arzt, der ihr während eines Praktikums im Gedächtnis geblieben ist: Seine PatientInnen, die Hilfe brauchen, aus ihrer Depression zurück ins Leben zu finden, bestellt er einmal wöchentlich ein. Maximal zehn Minuten bleiben ihm dabei pro PatientIn – nicht viel Zeit, um zuzuhören und Tipps für die Gestaltung des Alltags zu geben. Seine Idee: Er gibt eine Hausaufgabe, die Betroffenen sollen ein Bild malen – und es zum nächsten Besuch mitbringen. Ein genialer Gedanke, finde ich. Die PatientInnen haben eine verbindliche Aufgabe, sie können ihrer Kreativität freien Lauf lassen und erhalten dafür Wertschätzung (der Arzt fragt nicht selten, ob er das Bild behalten oder gar aufhängen dürfe). Kunst- und Verhaltenstherapie, Motivationscoaching – und das in zehn Minuten.
Für gerade solche Tricks und Erfahrungswerte lohnt sich der Austausch, der in diesem PJ-Tertial tatsächlich nicht zu kurz kommt. Ich erlebe hier so viele unterschiedliche ÄrztInnen und Persönlichkeiten und kann von jeder und jedem etwas für mich selbst mitnehmen.
In dieser Woche muss ich mich von Nicole und Sabine verabschieden, die PJlerinnen, mit denen ich meine bisherige Zeit in der WG in Kirchberg verbringen durfte. Schon in den wenigen Wochen, die ich jetzt hier bin, haben wir beim gemeinsamen Beisammensein, Essen und diversen Fachgesprächen oft zusammengesessen, was ich sicherlich vermissen werde… Einsam wird es auf dem Kirchberg bestimmt trotzdem nicht, schon für die kommende Woche hat sich eine Blockpraktikantin angekündigt, sodass die WG bald wieder Zuwachs bekommt.
Woche 5: 03.10. – 09.10.2022
Aufgrund des Feiertags am Montag hat die Arbeitswoche zwar einen Tag weniger, dafür ist das Patientenaufkommen in der Praxis am Dienstag gefühlt doppelt so hoch. Vor dem Empfangstresen der Praxis in Schöfweg tummeln sich die PatientInnen in Trauben, mich überkommt ein Gefühl der Überforderung. Doch nur ein Bruchteil der Wartenden erscheint auf unserer Behandlungsliste und wiederum einen Bruchteil davon bekommen die ÄrztInnen überhaupt zu Gesicht – einen Großteil der Anliegen der PatientInnen, die die Praxis aufsuchen, erledigen die "Mädels" am Empfang direkt. Rezepte, Überweisungen, Terminvereinbarungen, Befundmitteilungen – die MFAs behalten stets den Überblick, bringen Ordnung ins Chaos, halten den ÄrztInnen den Rücken frei und stehen für Fragen zur Abrechnung, Verordnungen etc. zur Verfügung. Mir war nicht bewusst, was für einen wichtigen Teil des Praxisablaufs sie darstellen und welche Wertschätzung ihre Arbeit verdient.
Neben Blutentnahmen und Untersuchungen übernehmen speziell ausgebildete Arzthelferinnen auch die Wundversorgung und die Betreuung von chronisch Kranken, z.B. im Rahmen von Diabetes- oder KHK-Programmen. In dieser Woche versuche ich, bei jeder Gelegenheit der Wundmanagerin bei ihrer Arbeit über die Schulter zu schauen. Die Versorgung chronischer Wunden ist etwas, das im Studium so gut wie gar nicht besprochen, geschweige denn praktisch durchgeführt wird. Umso mehr kann ich hier dazulernen und von der Erfahrung der Spezialistinnen hier profitieren.
In der Mittagspause mache ich mit einer der Assistenzärztinnen eine kleine Wanderung auf den Brotjacklriegel, den Hausberg von Schöfweg. Bei sonnigem Wetter durch den immer bunter werdenden Herbstwald – eine wunderbare Art, die Zeit bis zur Nachmittags-Sprechstunde zu nutzen. Nach den überwiegend nass-kalten vergangenen Wochen zeigt sich mir der Bayerische Wald nun von seiner besten Seite. Ich freue mich, die Natur am Wochenende bei dem ein oder anderen Ausflug hier genießen zu können…
Woche 6: 10.10. – 16.10.2022
Manchmal werfe ich einen Blick in die Patientenkartei oder auf die Anmeldeliste, bevor ich PatientInnen aus dem Wartezimmer hole. Doch oft lasse ich mich einfach überraschen – das ist das tolle an der Allgemeinmedizin: Man weiß nicht, was einen erwartet – von Kopf bis Fuß ist alles dabei, von dringlichen oder sogar notfallmäßigen Beschwerden bis zur Vorsorge-Untersuchung.
Eine junge Patientin, die vor kurzem entbunden hat und ihre kleine Tochter voll stillt, quält seit Wochen ein unangenehmer Reizhusten. Laut Lehrbuch lässt sich dieser sehr gut mit Codein behandeln, doch in der Stillzeit? Opioide sollten hier wenn möglich vermieden werden. Ein nicht ganz einfacher Fall, gemeinsam recherchieren wir zu verschiedenen Wirkstoffen, deren Übergang in die Muttermilch und eventuelle Auswirkungen auf den Säugling. Embryotox, eine Website der Charité ist hier eine hilfreiche Informationsquelle. Denn auch als Ärztin gilt: Wissen heißt wissen, wo’s steht! In Absprache mit der jungen Mutter verschreiben wir ihr ein Cortison haltiges Spray zur Inhalation und bitten sie, in den nächsten Tagen anzurufen, um uns die Entwicklung der Symptomatik mitzuteilen.
Eine weitere Besonderheit der hausärztlichen Tätigkeit: Die langfristige Begleitung der PatientInnen. Man sieht den Effekt einer Therapie und hat die individuelle Geschichte einer jeden PatientIn vor sich. Eine Patientin, die ich am Montag das erste Mal sehe, stellt sich mit starken Rückenschmerzen vor. Sie ist schmerzgeplagt, den Tränen nahe, ihre üblichen Schmerztabletten würden nicht mehr helfen. Wir nehmen uns Zeit für die Untersuchung, schließen abwendbar gefährliche Verläufe aus und tragen damit schon wesentlich zur Besserung ihres Befindens bei: Sie fühlt sich ernst genommen und ist froh, keine Sorge vor "etwas Schlimmerem" haben zu müssen. Wir erweitern die Schmerzmedikation und zeigen ihr Übungen zur Lockerung der Muskulatur. Am Freitag kommt die Patientin wieder, es gehe ihr schon viel besser und sie bedankt sich für die Hilfe. An ihre Hausarztpraxis sind die PatientInnen in der Regel viel enger angebunden als an Kliniken. Wer würde sich denn schon nach einer stationären Behandlung wieder im Krankenhaus vorstellen, wenn die Beschwerden nun besser sind?
Die Nähe einer Hausärztin zu ihren PatientInnen nehme ich in dieser Woche noch einmal ganz deutlich wahr. Eine ältere Dame betritt die Praxis, sichtbar verzweifelt und mit Tränen in den Augen. Frau Dr. Takacs versteht sofort, sie schließt die Tür zum Wartezimmer, um der Patientin ein bisschen Privatsphäre in der hektischen Stimmung am Empfangstresen zu gewähren. Ihr Mann sei am Tag zuvor verstorben, berichtet die Patientin. Die Ärztin zögert nicht, sie in den Arm zu nehmen und ihrer Trauer freien Lauf zu lassen. Später erzählt sie mir, wie sie den schwerkranken Ehemann der Frau lange ärztlich begleitet hatte und den beiden bis zum Schluss nahestand. Menschen langfristig und ganzheitlich zu begleiten, mit ihren körperlichen und auch seelischen Leiden, das ist das, was für mich die Hausarztmedizin ausmacht. Und was mich mit jeder Woche hier mehr überzeugt.
Woche 7: 17.10. – 23.10.2022
Nachdem ich nun alle Praxen kennengelernt habe und zudem aktuell die einzige PJlerin bin, habe ich bei der Entscheidung für meine erste Stammpraxis die Qual der Wahl. Die nächsten Wochen werde ich erstmal mit Dr. Kalmancai in Auerbach sein. Gleich am Montag sehe ich eine Patientin wieder, bei der wir vor drei Wochen zu einem notfallmäßigen Hausbesuch gewesen sind. Sie war bei der Apfelernte von der Leiter gestürzt und hatte starke Schmerzen im Unterschenkel. Wir konnten damals nicht viel tun, außer nach kurzer Untersuchung den Rettungsdienst zu alarmieren, es bestand der dringende Verdacht auf eine Fraktur. Beim heutigen Besuch sehe ich in den Befunden der Klinik, dass unser Eindruck richtig war, die kombinierte Tibia- und Fibulafraktur musste operativ versorgt werden. Nach der Klinikentlassung ist unsere Aufgabe jetzt, die Medikation zu überprüfen und die Patientin in ihrem Heilungsverlauf zu begleiten. Dazu zählt neben der Wundversorgung auch die Vereinbarung von Terminen für die Röntgenkontrolle und die Organisation einer Reha.
Hausbesuche stehen in dieser Woche fast täglich auf dem Programm. Einige PatientInnen erreichen wir fußläufig, zu anderen haben wir mit dem Praxis-Elektroauto teilweise bis zu einer halben Stunde Anfahrt. Morgendliche Beinschmerzen, zunehmende Luftnot, verschlechterter Allgemeinzustand, die jährliche Grippeimpfung – das sind nur einige wenige der Anlässe für einen Hausbesuch. Bei vielen PatientInnen fahren wir ohne konkretes Anliegen vorbei, um uns nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ich finde es spannend, die PatientInnen in ihrem häuslichen Umfeld kennenzulernen. Der Duft von frisch gesammelten Schwammerln auf dem Herd, eine Geruchsfahne aus dem angrenzenden Kuhstall – was für ein abwechslungsreiches Arbeitsumfeld!
Am Mittwoch treffen wir uns zum zweiwöchentlichen Journal-Club, wo Ergebnisse aktueller Studien vorgestellt und diskutiert werden. Viel Gesprächsbedarf fordert mal wieder das Thema Covid – diesmal der Einsatz von Paxlovid. Scheinbar vielversprechende Studien und die daraus resultierende gesundheitspolitische Anpreisung des Medikaments in den Medien führen dazu, dass immer mehr PatientInnen danach fragen, manchmal die Verschreibung gar einfordern. Wir hören von einer Praxis, die Paxlovid bereits sehr großzügig einsetzt, andere Praxen lehnen die Verschreibung kategorisch ab. Für die HausärztInnen ein schwieriges Thema. Schwierig ist z.B. die Diskrepanz zwischen im Moment nur wenig kranken PatientInnen (Paxlovid muss gleich zu Beginn der Infektion eingesetzt werden) einerseits und den doch weitreichenden Wechsel- und Nebenwirkungen des Proteaseinhibitors andererseits. Schwierig ist auch die richtige Anwendung des Medikaments, die kompliziert ist und den PatientInnen genau erklärt werden muss. Die Studien, die wir uns ansehen, zeigen zwar eine gute Wirksamkeit von Paxlovid, allerdings muss eine Vielzahl von PatientInnen damit behandelt werden, um bei einem Fall einen schweren Verlauf bzw. Tod zu verhindern (die sogenannte Number needed to treat). Gemeinsam überlegen wir uns, wie wir die PatientInnen, die von einem Einsatz von Paxlovid vermutlich am meisten profitieren, identifizieren können. Am Ende des Abends haben wir Checklisten mit Risikofaktoren und Voraussetzungen, an denen wir uns orientieren können. Auf die weitere Entwicklung und die Umsetzung in der Praxis bin ich nun gespannt.
Woche 8: 24.10. – 31.10.2022
Nach einem Wochenende mit Wanderung auf den Rachel durch den wunderschönen Herbstwald (und Sicht bis zu den Alpen!) starte ich erholt in die neue Woche.
Eine nahegelegene Kinderarztpraxis scheint gerade Urlaub zu haben, was zu überdurchschnittlich vielen kleinen PatientInnen in unserem Wartezimmer führt. Ein Sechsjähriger mit einer Platzwunde am Kopf kommt zur Fädenentfernung, was erst einmal etwas Überzeugungsarbeit fordert. Am Ende sind die Fäden entfernt und der Junge ist glücklich. Ebenso wie die Mutter eines sechs Monate alten Säuglings, der seit einigen Tagen stark hustet. Wir hören in einem ruhigen Moment (gar nicht so einfach…) seine Lunge ab, diese ist frei und wir erklären der Mutter, wie sie den Kleinen Inhalieren lassen kann. Schwieriger wird es, eine Vierjährige mit Bauchschmerzen von der Harmlosigkeit des Ultraschall-Kopfes zu überzeugen. Da ist Geduld gefragt – doch schließlich können wir auch hier Entwarnung geben. Die Arbeit mit Kindern hat mir schon immer besonders gut gefallen und ich finde es sehr schön, dass man im hausärztlichen Alltag auch die kleinen PatientInnen mitbetreuen kann.
In dieser Woche wird mir eines der hausärztlichen Arbeitsprinzipien besonders deutlich: Der Ausschluss von abwendbar gefährlichen Verläufen (AGVs). Egal ob Bauch-, Kopf- oder Rückenschmerzen, ob Fieber oder Schwindel – in den allermeisten Fällen haben die Symptome der PatientInnen in der Hausarztpraxis harmlose Ursachen, doch hinter jedem Symptom kann auch eine Erkrankung stecken, deren gefährlichen Verlauf es zu erkennen und abzuwenden gilt. Dabei müssen HausärztInnen nicht unbedingt die genaue Diagnose stellen. Es geht vielmehr darum, Warnzeichen (sogenannte "Red Flags") zu erkennen und entsprechend zu reagieren, in der Regel bedeutet das, die PatientInnen in die Klinik zu schicken. Genau das hatten wir nach einem Hausbesuch in der vorigen Woche gemacht. Eine bettlägerige Patientin mit diversen Vorerkrankungen klagte über Übelkeit und Appetitlosigkeit, ansonsten aber sehr unspezifische Beschwerden, sie verneinte Bauchschmerzen oder Stuhlunregelmäßigkeiten, gab keinen Husten an. Wir stellten eine erhöhte Temperatur fest und nahmen Blut ab. Die Laborwerte zeigten stark erhöhte Entzündungsparameter, woraufhin wir die Patientin bei unklarem Infektfokus in die Klinik einwiesen. Der Bericht der Notaufnahme überrascht uns: Bei der Patientin wurde eine Harnwegsinfektion mit hochgradigem Harnstau und daraus resultierender Pyelonephritis sowie eine Pneumonie festgestellt. Bei unserem Hausbesuch hatten wir weder Anzeichen der Pyelonephritis noch der Pneumonie festgestellt. Aber wir hatten erkannt, dass aufgrund des Fiebers und der auffälligen Laborwerte ein relevanter Infekt für die Patientin die Gefahr eines gefährlichen Verlaufs darstellte – der durch die Klinikeinweisung abgewendet werden konnte. Bei unserem heutigen Hausbesuch geht es der Frau schon deutlich besser.
Ein weiteres Beispiel aus dieser Woche: Eine Patientin stellt sich mit Bauchschmerzen vor. Ich frage sie nach Schmerzintensität und -qualität, möglichen Auslösern, Vorerkrankungen, begleitender Übelkeit und Stuhlveränderungen – es klingt zunächst nach einer harmlosen Gastroenteritis, mit der ich hier nun schon bestimmt ein Dutzend PatientInnen gesehen habe. Doch bei der Untersuchung reagiert die Patientin anders, als ich es bisher gewohnt war. Der Druckschmerz im Unterbauch ist massiv, zwar sind die Appendizitis-Zeichen nicht eindeutig auslösbar, aber irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Ich hole Dr. Kalmancai dazu und wir finden im Ultraschall des Bauches freie Flüssigkeit – ein klares Warnzeichen! Ob die Patientin nun eine Appendizitis hat oder ein gynäkologisches Problem, können und müssen wir nicht festlegen. Entscheidend ist, sie in die Notaufnahme zu schicken. Auch hier bin ich gespannt auf den Befund – wie gut, solche Verläufe nachverfolgen zu können.
Woche 9: 01.11. – 06.11.2022
Halbzeit meines Tertials im Bayerwald – die Zeit vergeht mal wieder wie im Flug. Wenn ich auf die vergangenen Wochen zurückblicke, kann ich jetzt schon sagen: Meine Lernkurve ist steil (fast so steil wie die Auffahrt zur Kirchberger Wohnung, vor der ich auch ohne Glatteis schon Respekt habe…). In meinem vorausgegangenen Tertial in der Chirurgie und auch in meinen Famulaturen hatte ich irgendwann das Gefühl, so ziemlich alles auf der entsprechenden Station einmal gesehen zu haben, alle relevanten Abläufe verinnerlicht zu haben – kurz: es war irgendwann doch immer das Gleiche. Das kann ich von meinem Tertial in der Allgemeinmedizin nicht behaupten. Bis heute kommen jeden Tag PatientInnen mit für mich neuen Beratungsanlässen. Und selbst wenn es die gleichen Symptome sind, präsentieren sie sich doch je nach PatientIn immer wieder anders, führen zu unterschiedlichen Untersuchungsbefunden, werden unterschiedlich therapiert.
Hinzu kommt, dass sich die Vorgehensweise auch je nach behandelnder Ärztin bzw. Arzt unterscheidet. Oft gibt es nicht den einen richtigen Weg, und im Team finden ÄrztIn und PatientIn eine individuelle Lösung. Natürlich gibt es auch in der Allgemeinmedizin Leitlinien und Lehrbücher, die eine hilfreiche Stütze bieten und Optionen aufzeigen. Letztendlich gibt es jedoch zahlreiche Faktoren, die berücksichtigt werden und das ärztliche Handeln beeinflussen. Es ist wie "zwischen den Zeilen lesen". Was, wenn die Medikamente der Wahl bei einer Patientin keine Option darstellen, weil Allergien, Interaktionen oder auch persönliche Vorbehalte bestehen? Und das Medikament der zweiten Wahl gerade nicht lieferbar ist? Was, wenn eine Darmspiegelung zwar formal nicht indiziert ist, ein Patient aber den Gedanken, Darmkrebs haben zu können, nicht loswird und vor Sorge nicht mehr schlafen kann? Was, wenn ein Patient starke Schmerzen angibt, aber der dringende Verdacht auf Missbrauch von Betäubungsmitteln besteht? Und was tun mit der multimorbiden 90-Jährigen, die kurz vor dem Nierenversagen steht, aber eine Krankenhaus-Einweisung strikt ablehnt? Und wenn ihre Tochter aber darauf besteht?
All diese Beispiele zeigen, wie individuell Entscheidungen getroffen werden müssen, was für ein feines Gespür die HausärztInnen hier haben müssen – und, warum für mich in diesem Tertial kein Tag wie der andere ist.
Woche 10: 07.11. – 13.11.2022
Die Woche beginnt spannend: Am Montag geht es in der praxisübergreifenden Themenbesprechung um Osteoporose – für die allermeisten unserer PatientInnen eine relevante Problematik, denn: Sie ist in hohem Alter so häufig, dass man fast eher von einer Alterserscheinung als von einer Krankheit sprechen könnte. In der Uni schien mir die Therapie ganz einfach: Calcium, Vitamin D, Bisphosphonate. Doch Vitamin D und Calcium helfen nur in Verbindung mit vermehrter Bewegung, was wir unseren PatientInnen unbedingt mitgeben sollten und uns bei bettlägerigen PatientInnen die Therapie überdenken lassen sollte. Bisphosphonate haben ernst zu nehmende Nebenwirkungen und die Indikation ist hierfür streng zu stellen. Eine eindeutige Lösung gibt es nicht immer, anhand von Fallbeispielen diskutieren wir die Therapie in bestimmten Situationen. Gerade für diesen Austausch und diese Diskussionen zu Fragestellungen, die eben nicht so einfach mit universitärem Wissen zu beantworten sind, finde ich die Besprechungen im Team hilfreich. Oft haben die KollegInnen nochmal andere Erfahrungen gemacht, beleuchten zusätzliche Aspekte, haben neuere Studienergebnisse parat.
Außerdem darf ich in dieser Woche für zwei Tage in der Klinik in Viechtach bei Dr. Jana Riedl, Chefärztin der Inneren Medizin, hospitieren. Kennengelernt hatte ich sie bei einem gemeinsamen Abendessen mit den Studierenden des Exzellenten Sommers, wo sie mir eine Hospitation angeboten hatte. 7:30 Uhr Visite, 40 Minuten Anfahrt… der Aufwand lohnt sich! Auch wenn zwei Tage eine sehr kurze Zeit sind, kann ich viel sehen. Im Herzkatheter-Labor, bei Herzechos, Pleurapunktion und in der Endoskopie, wo ich das Coloskop auch mal selbst in die Hand nehmen darf. Nicht nur Dr. Riedl erklärt mir ausführlich, auch die anderen ÄrztInnen haben sichtlich Spaß an der Lehre. Jetzt habe ich ein Bild vor Augen, was es für die PatientInnen bedeutet, wenn wir sie zur Magen-/Darmspiegelung oder zur Herzkatheter-Untersuchung schicken und wie es für sie weitergeht, wenn wir sie mit Verdacht auf Herzinfarkt oder dekompensierter Herzinsuffizienz ins Klinikum einweisen.
So gut mir die Tage in Viechtach auch gefallen haben, das Highlight der Woche bleibt der Donnerstagabend, als in Kirchberg und den umliegenden Dörfern das traditionelle Wolfsausläuten stattfindet. Der ohrenbetäubende Lärm lockt mich am Abend aus meiner Wohnung auf den Dorfplatz, wo die Menschen in Gruppen auf großen Glocken trommeln, die sie sich um den Bauch gebunden haben. Dieser Brauch ist mir völlig neu, fasziniert und ein wenig belustigt suche ich mir mit Marie, die gerade für ihr Blockpraktikum hier ist, einen Weg durch die Menschenmassen. Ich wusste gar nicht, dass es in Kirchberg so viele Menschen gibt… 😀 Weil wir leider nicht an einen Gehörschutz gedacht hatten (Anfängerfehler!), machen wir uns auf den Heimweg, als das Glockengeläut auch noch durch Peitschenknalle ergänzt wird. Was wir noch nicht wissen: geläutet wird die ganze Nacht hindurch bis zum nächsten Morgengrauen.
Woche 11: 14.11. – 20.11.2022
Nach mehreren Wochen in der Praxis in Auerbach kenne ich nun schon viele der PatientInnen, die regelmäßig kommen. So kann ich zumindest ansatzweise nachvollziehen, wie es ist, PatientInnen langfristig zu betreuen, und was dabei für ein Vertrauensverhältnis entstehen kann. Vertrauen seitens der PatientInnen, die bei uns offen über ihre Anliegen berichten und sich aufgrund unserer Beratung für eine Therapie entscheiden. Vertrauen auch auf ärztlicher Seite, dass die PatientInnen die verschriebene Therapie verantwortungsbewusst umsetzen. Hier hilft es, die jeweils andere Seite seit langem zu kennen. Der entzündete Unterschenkel eines Patienten macht mir Sorge, mein erster Gedanke ist, ihn zur Behandlung ins Krankenhaus zu schicken. Dr. Kalmancai kennt den Mann gut, er steht einem Klinikaufenthalt eher ablehnend gegenüber. Jedoch ist er eng an seinen Hausarzt gebunden, wohnt in der Nähe und versichert, das verschriebene Antibiotikum empfehlungsgemäß einzunehmen und täglich zur Kontrolle zu kommen. Hätten wir ihm einfach eine Einweisung in die Hand gedrückt, wäre der Patient wahrscheinlich weder in die Klinik gegangen noch in unsere Praxis zurückgekommen. So aber bleibt er angebunden und Dr. Kalmancai kann sich sicher sein, eine Verschlimmerung des Befundes nicht zu verpassen. Und sollte eine solche Situation doch eintreffen und eine Klinikeinweisung unumgänglich machen, reicht das Vertrauen des Patienten in seinen Hausarzt vielleicht doch aus, sich auf dessen ausdrückliche Empfehlung stationär behandeln zu lassen.
Ein weiterer Vorteil es, dass ich so den Verlauf von Behandlungsfällen verfolgen kann. Ich sehe Wunden beim Heilen zu, sehe die Änderung des INR nach der Anpassung der Marcumar-Dosis, höre die Veränderung des Atemgeräuschs im Verlauf der spasmolytischen Therapie. Außerdem sehe ich in dieser Woche die Patientin wieder, die wir wegen blutigen Durchfällen und einem starken Druckschmerz im rechten Unterbauch ins Krankenhaus eingewiesen hatten. Dort folgte die Erstdiagnose eines Morbus Crohn. Die Patientin wirkt noch geschwächt vom Klinikaufenthalt und vom Schock der Diagnose. Die Einstellung der Medikation wird in der gastroenterologischen Praxis erfolgen, zur Begleitung des gesamten Therapieverlaufs und als erste Anlaufstelle wird jedoch die hausärztliche Praxis da sein.
Woche 12: 21.11. – 27.11.2022
"Patient mit Ausschlag" – ein Beratungsanlass, bei dem ich sehr schnell an meine Grenzen komme. Die Anamnese bekomme ich noch hin: Gibt es einen Auslöser, sind Allergien bekannt? Juckt, brennt oder schmerzt es? Doch schon bei der Befundbeschreibung wird’s schwierig: Makulös? Papulös? Oder doch eher Bläschen? Konfluierend? Erhaben? Schorf oder Kruste? Was die Therapie betrifft, sind Cortison-haltige Präparate meist eine gute Wahl – manchmal aber eben auch nicht. Um ein bisschen Ordnung in mein Dermatologie-Chaos zu bringen, habe ich mir für diese Woche eine Hospitation in der Hautarztpraxis von Dr. Sbornik in Deggendorf organisiert.
Los geht es mit der Notfall-Sprechstunde – heute sind es zwölf PatientInnen in 30 Minuten. Viel Zeit bleibt da nicht zum Erklären, aber es geht in der Dermatologie ja vor allem um das Anschauen. Und da wird mir wirklich eine ganze Bandbreite an Hautbefunden geboten. Ekzeme, Infektionen, Tumoren… Das Rezept für die richtige Creme ist schnell erstellt, für weitere Behandlungen werden die PatientInnen für einen regulären Termin wieder einbestellt.
In der Terminsprechstunde ist das Tempo etwas angenehmer, trotzdem ist auch hier nicht die Zeit für eine Anamnese oder eine ausführliche Befundbesprechung, wie ich sie aus der Hausarztpraxis kenne. Und das, obwohl die PatientInnen teilweise Monate auf einen Termin warten müssen. Zufrieden sind sie danach dennoch, gerade bei juckenden Hautbefunden ist der Leidensdruck oft hoch. Da ist eine gesicherte Diagnose schon der erste Schritt zur Besserung, und für den entsprechenden Therapievorschlag sind die Menschen dann mehr als dankbar. Einige störende oder entartungsgefährdete Hautveränderungen werden direkt entfernt, auch hier bekomme ich einiges zu sehen: Multiple kleine Hämangiome werden mittels Laser verödet, aktinische Keratosen mit einer Kürette abgetragen und ein Basaliom in einer kleinen Operation mit Skalpell großflächig entfernt und der Defekt mit einer Hautplastik gedeckt.
Gesehen habe ich in diesen zwei Tagen viel, gelernt auf jeden Fall auch – zum Beispiel, dass es doch eindeutig die Arbeit als Hausärztin ist, die ich mir für meine Zukunft vorstelle. Das ist die Art der Medizin, die mir Spaß macht und die mich erfüllt. Umso schöner ist es, nach zwei Tagen im Derma-Dschungel wieder mit Dr. Blank in Grafenau zu arbeiten. Mutig wage ich mich erneut an eine "Patientin mit Ausschlag und Schmerzen". Ich finde Vesikel und Papeln auf erythematösem Grund, teilweise konfluierend, begrenzt auf ein Dermatom des Brustkorbs. Dazu beschreibt die Patientin brennende Schmerzen – das muss eine Gürtelrose sein! Und die behandeln wir NICHT mit Cortison, sondern mit einem oralen Virostatikum 🙂 Mein Ausflug in die Dermatologie scheint sich also gelohnt zu haben…
Woche 13: 28.11. – 04.12.2022
Die Woche beginnt für mich wieder in der Praxis in Grafenau, wo es – wie für einen Montag üblich – ein hohes Aufkommen von PatientInnen gibt. Ganz besonders stark vertreten sind aktuell InfektpatientInnen. Während ich mich zu Beginn meiner Zeit als PJlerin hier eher zurückgehalten habe, ist der "grippale Infekt" für mich inzwischen ein dankbarer Beratungsanlass. Für die Anamnese und die körperliche Untersuchung habe ich ein festes Schema, ich höre unzählige Lungen ab, sehe Trommelfelle, gerötete Rachen und geschwollene Mandeln. Und durch die Vielzahl an verschiedenen Befunden sammle ich Erfahrung, kann vergleichen und letztendlich einschätzen, wann etwas auffällig ist und über eine gewöhnliche harmlose Erkältung hinausgeht.
Ein Patient, der mich in dieser Woche besonders beschäftigt, stellt sich vor mit Nachtschweiß seit einigen Monaten, zudem Husten und Luftnot bei Belastung. Angefangen habe die Symptomatik nach einem Atemwegsinfekt. Mein auf Schlagworte getrimmtes Gehirn lässt mich bei "Nachtschweiß" sofort an eine Tumorerkrankung denken. Doch der Patient hat weder Fieber noch an Gewicht verloren, und Dr. Blank erklärt mir, dass ein sogenanntes B-Symptom allein noch kein Hinweis darauf ist. Er denkt eher an eine Herzmuskelentzündung im Anschluss an einen Virusinfekt. Ich stelle den Patienten am nächsten Tag in der wöchentlichen Fällebesprechung vor. Nachdem im Labor und EKG keine Anzeichen für eine Entzündung oder eine Herzinsuffizienz zu sehen sind, werden wir uns einig, dass eine Niedrigdosis-CT-Untersuchung der Lunge für den Patienten zu empfehlen ist, zumal er langjähriger Raucher ist. Ausgeschlossen werden sollen dort eine chronische Entzündung sowie ein Tumor. Das Risiko hierfür ist gering, es geht nur darum, diese abwendbar gefährlichen Verläufe zu erkennen. Für mich macht das Sinn; kein Grund zur Sorge also, es geht nur um die definitive Abklärung. Doch als ich dem Patienten von unserem Vorhaben der CT-Untersuchung erzähle, will er natürlich wissen, was wir da suchen. Und in meiner ehrlichen Antwort komme ich um das Wort Tumor nicht herum – was beim Patienten schlagartig Verunsicherung auslöst. Zum Glück kommt uns Dr. Blank zu Hilfe und übernimmt das Gespräch. Am Ende ist der Patient zufrieden, er sieht, dass wir seine Beschwerden ernst nehmen und dass dazu auch der Ausschluss gefährlicher Diagnosen gehört, auch wenn wir diese im Moment für nicht wahrscheinlich halten. Ich wiederum sehe, wie wichtig und herausfordernd ärztliche Gesprächsführung sein kann.
Am Wochenende genieße ich die Vorteile der Region noch einmal in vollen Zügen – nach einer knappen halben Stunde Autofahrt stehe ich auf meinen Langlaufskiern in der Loipe. Bei strahlendem Sonnenschein und den Arber-Gipfel im Blick geht’s zur Chamer Hütte. Mit einer Übernachtung hier hat 2020 meine Famulatur im Exzellenten Winter begonnen…
Woche 14: 05.12. – 11.12.2022
Reha-Anträge ausfüllen gehört zu den alltäglichen Aufgaben in der Hausarztpraxis. PatientInnen nach der Rückkehr von der Reha zu betreuen, auch. Doch was passiert eigentlich während einer solchen Reha? Um mir davon einmal ein Bild machen zu können, hospitiere ich in dieser Woche drei Tage in der orthopädischen Abteilung der Rehaklinik Schaufling.
Tatsächlich kann ich mir dort mehr als nur ein Bild der Heilbehandlungen machen, ich darf einzelne Anwendungen sogar selbst ausprobieren. Dr. Buvar und sein Team haben mir einen eigenen Plan erstellt, auf dem eine breite Auswahl an physiotherapeutischen Behandlungen steht. Und so wird es für mich ein körperlich aktiver erster Tag mit therapeutischem Klettern, Koordinationstraining, Elektrotherapie und Lymphdrainage. Am Nachmittag bin ich bei einem Aufnahme- und Abschlussgespräch dabei. Besonders beeindruckt mich die ausführliche orthopädische Untersuchung und der umfangreiche Bericht, der danach erstellt werden muss. Die Rentenversicherung fordert als Kostenträger ein genaues Gutachten, da wird das Bewegungsausmaß jedes einzelnen Gelenks dokumentiert, die bisherige berufliche Tätigkeit analysiert und jede Treppenstufe im häuslichen Umfeld erfragt. Für mich eine gute Gelegenheit, die orthopädische Untersuchung zu wiederholen und eine erweiterte Anamnese zu üben.
Der nächste Tag startet im Freien: Bei -3°C mache ich mich mit einer Gruppe von RehabilitandInnen und der Therapeutin auf zum Waldbaden. Zwei Stunden verbringen wir im Wald rund um das Klinikgebäude, hören Geschichten über die Vergangenheit der Klinik als Lungenheilanstalt, finden Parallelen zwischen der vielfältigen Natur und unserem eigenen Leben, schärfen unsere Sinne, atmen Waldluft. Die Therapieeinheit spricht Körper, Geist und Seele gleichermaßen an und zeigt den ganzheitlichen Therapieansatz der Rehabilitation. Am Ende wirkt die Gruppe entspannt, die Zeit im Wald hat gut getan – auch mir. Ein bisschen durchgefroren sind wir doch, umso besser, dass als nächstes Wärmetherapie und Hydrojet-Massage auf meinem Plan steht. 🙂
Am dritten Tag organisieren die KlinikärztInnen für mich noch einen Untersuchungskurs, indem ich die orthopädische Untersuchung von Schulter und Knie noch einmal üben kann. Außerdem zeigen sie mir die Grundlagen der Gelenk-Sonografie, an die ich mich (im Gegensatz zu Abdomen- und Schilddrüsen-Ultraschall) in der Praxis bisher nicht gewagt habe. Ich bin sehr dankbar für die lehrreichen Tage und die tolle Organisation meiner Hospitation in Schaufling und freue mich, das gelernte bald in der Hausarztpraxis anwenden zu können.
Woche 16: 19.12. – 23.12.2022
Nachdem ich mir in der vergangenen Woche Urlaub genommen habe, kommen meine letzten Arbeitstage als PJlerin hier plötzlich schneller als es mir lieb ist… In meiner letzten Woche bin ich nochmal in meinen Stammpraxen in Auerbach und Grafenau, wo ich inzwischen nicht nur die Arbeitsabläufe verinnerlicht habe und mich als Teil des Teams fühle, sondern auch viele der PatientInnen kenne. Mir wird bewusst, dass ich ihre Untersuchungsergebnisse und Behandlungsverläufe nun nicht mehr weiterverfolgen kann, auch deshalb fällt mir der Abschied schwer.
Etwa drei von fünf Ankömmlingen in der Praxis in Auerbach sind momentan Infekt-PatientInnen. Influenza, RSV, Covid – in der Behandlung unterscheiden sich die Viruserkrankungen nicht, sie orientiert sich am Zustand und den Symptomen der Erkrankten. Gefühlt ein weiterer der fünf Menschen am Empfangstresen kommt, um uns schöne Feiertage zu wünschen und sich für die gute Betreuung zu bedanken – der Stapel an Merci, Mon Cheri und Dosen mit selbstgebackenen Plätzchen wächst… Die Dankbarkeit der PatientInnen macht mich dabei noch glücklicher als die Schokolade selbst.
Vermissen werde ich die morgendliche Fahrt durch den verschneiten Bayerischen Wald im Sonnenaufgang, der jeden Tag anders schön ist. Ebenso fehlen werden mir die Ärztinnen und Ärzte sowie das Praxis-Team, ich bin dankbar für ihre Geduld, Motivation und Freude an der Lehre. Ich habe in den vergangenen Monaten hier viel gelernt und bin mir sicher, dass ich in mein nächstes Tertial nicht nur mit neuem Wissen, sondern auch mit mehr Selbstsicherheit durch die gewonnene Erfahrung im Umgang mit PatientInnen starten kann.
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